Saison 1999/2000: Konzert 8

Sonntag, 14. Mai 2000 17 Uhr Sendesaal des Deutschlandfunks

G. Ph. Telemann und der "Polnische Stil"

Concerti und Sonaten Camerata Köln Sendung im Deutschlandfunk am 23.5.2000

Die besondere Fähigkeit Telemanns, verschiedene europäische Einflüsse in seiner Musik zu verschmelzen, offenbaren einige Werke >polnischen Stils<, die während seiner Jahre als Kapellmeister im schlesischen Sorau entstanden. Telemann bekennt, er habe »verschiedene Concerte und Trii in dieser [polnischen] Art geschrieben, die [...] in einen italiänischen Rock, mit abgewechselten Adagi und Allegri, eingekleidet sind. Das Ensemble Camerata Köln, spezialisiert auf barocke und klassische Kammermusik, wird einige höchst interessante Kompositionen Telemanns interpretieren, die aus der Phase von Telemanns "Polen-Mode" entstammen.

Programmfolge

Georg Philipp Telemann
Concerto grosso G-Dur für 2 Traversflöten, Streicher und Bc
(Andante), Allegro, Largo, Presto

Sonatine a-Moll für Blockflöte und Bc (aus den "Neuen Sonatinen")
Andante, Allegro, Andante, Presto

Concerto a-Moll für Blockflöte, Viola da gamba, Streicher und Basso continuo
Grave, Allegro, Dolce, Allegro

PAUSE

Concerto D-Dur für Traversflöte, Streicher und Basso continuo
Moderato (Polonaise), Allegro, Largo, Vivace

Sonata polonese a-Moll für Violine, Viola und Basso continuo
Andante, Allegro, Dolce, Allegro

Concerto e-Moll für Blockflöte, Traversflöte, Streicher und Basso continuo
Largo, Allegro, Largo, Presto

Georg Philipp Telemann und der "Polnische Stil"

"Im 1704 ten Jahre wurde ich nach Sorau, zu Sr Excellenz, dem Grafen Erdmann von Promnitz, als Capellmeister berufen. ... Als der Hof sich ein halbes Jahr nach Plesse, einer oberschlesischen, promnitzischen Standesherrschaft, begab, lernete ich so wohl daselbst, als in Krakau, die polnische und hanakische Musik, in ihrer wahren barbarischen Schönheit kennen. ... Man sollte kaum glauben, was dergleichen Bockpfeiffer oder Geiger für wunderbare Einfälle haben, wenn sie, so oft die Tantzenden ruhen, fantaisiren. Ein Aufmerckender könnte von ihnen, in 8. Tagen, Gedancken für ein gantzes Leben erschnappen. Gnug, in dieser Musik steckt überaus viel gutes; wenn behörig damit umgegangen wird. Ich habe, nach der Zeit, verschiedene große Concerte und Trii in dieser Art geschrieben, die ich in einen italiänischen Rock, mit abgewechselten Adagi und Allegri, eingekleidet." (Georg Philipp Telemann, Autobiographie (1739), in: Johann Mattheson, Grundlage einer Ehrenpforte, Hamburg 1740)

Telemann war in der Tat "ein Aufmerckender" und hat wie kein zweiter Komponist des Hochbarock aus der Begegnung mit slawischer folkloristischer-Musik "Ideen für ein gantzes Leben erschnappt". Auf seinen weltoffenen, allen stilistischen Strömungen seiner Zeit aufgeschlossenen kompositorischen Geist hat diese Erfahrung vielleicht den entscheidenden, ihn von fast allen Zeitgenossen unterscheidenden Einfluss ausgeübt, der sein Schaffen bis an sein Lebensende durchdringt. (Einzig Jan Dismas Zelenka wäre ein Parallelbeispiel.) Die besondere Fähigkeit Telemanns, verschiedenste europäische Einflüsse zu verschmelzen, dürfte die auch heute noch immer wieder spürbare Stärke seiner Musik wesentlich ausmachen: die höfisch-vornehme und repräsentative Sprache des ihm wohlvertrauten französischen Stils, die Nobilität und der Ausdrucksreichtum der italienischen Musik sowie die strengen Einflüsse aus der deutschen Kantorenschule des 17. Jahrhunderts werden bei ihm durch die herbe, unverbrauchte und "unkultivierte" Sprache der slawischen Volksmusik fermentiert.

Der Einfluss des "polnischen Stils" ist mehr oder weniger evident, am stärksten in Stücken wie dem Schluss-Satz des e-Moll-Concertos für Block- und Traversflöte, der regelrechte Zitate verwendet und sich in geradezu kompromissloser Weise dem musikantischen Idiom der "Bockpfeiffer" verschreibt. Jedoch auch in unzähligen seiner anderen Werke sind die rhythmische Kraft, die harmonische und melodische Irregularität slawischer Volksmusik latent vorhanden und prägen Telemanns Individual-Stil. Er steht somit in einer Reihe von Komponisten wie Joseph Haydn (Sinfonie Nr 104!), Zoltan Kodaly und Béla Bartók.

Die drei Concerti unseres Programms sind allesamt in hohem Maße dem "polnischen Stil" verpflichtet. Man beache neben dem bereits erwähnten Schluss-Satz aus dem e-Moll-Concerto den letzten Satz des a-Moll Concertos für Blockflöte und Viola da gamba sowie den ersten des Flötenkonzerts D-Dur, einer ausgesprochenen Polonaise. In den zwei Triosonaten und der Cembalosuite aus dem "Getreuen Music-Meister" erwähnt Telemann seine Verpflichtung der "barbarischen Schönheit" des polnischen Stils gegenüber sogar im Titel. Telemann versteht es, die elementare Wirkung seiner "polnischen" Sätze noch zu steigern, indem er sie zumeist auf ausgesprochen italienische, von melodischer Schönheit getränkte "Adagi" folgen lässt: im e-Moll Konzert einem allem Irdischen enthobenen "Liebesduett" in E-Dur, wie es jeder Händel-Oper zur Zierde gereichte, im a-Moll-Konzert einem rührend-schlichten Dolce-Satz in Triosonaten-Faktur.

Einen besonderen Hinweis verdient noch die "Sonatine" für Blockflöte und Basso continuo in a-Moll (einer Tonart, in der Telemann besonders gern "polnisch" komponierte). Bis vor wenigen Monaten galt die originale Bass-Stimme dieser Sonate als verschollen, was in den vergangenen Jahren zu mehreren Ergänzungsversuchen geführt hatte. Der Freiburger Flötist und Musikwissenschaftler Nikolaus Delius hat jedoch vor kurzem unter anonymen Beständen der Sächsischen Landesbibliothek Dresden die Bass-Stimmen von zwei der insgesamt 6 Sonatinen gefunden. Es freut mich sehr, dem Kölner Publikum die originale Fassung dieser Sonatine (in Wirklichkeit eine ausgewachsene, äußerst dankbare Sonate!) heute - vielleicht zum ersten Mal in diesem Jahrhundert - im Konzert vorstellen zu können.

Michael Schneider

Die Mitwirkenden

Camerata Köln