Saison 2000/2001: Konzert 1
Telemann in Darmstadt. Ouvertüren und Konzerte
Neue Düsseldorfer Hofmusik Sendung im Deutschlandfunk am 3.10.2000Düsseldorfs Fürsten pflegten immer einen guten Geschmack. Ihren exquisiten Anschauungen entspricht ein über Jahrhunderte andauerndes repräsentatives Kulturleben am Düsseldorfer Hof. Sowohl unter den an den Hof geladenen Komponisten als auch unter den Interpreten finden sich erste Namen aus der Musikgeschichte wie Agostino Steffani, Francesco Maria Veracini und Georg Friedrich Händel. Als Kurfürst Carl IV. Philipp Emanuel Theodor von Sulzbach - kurz Carl Theodor genannt - nach Mannheim ging, folgten ihm fast zwei Drittel der Musiker der Düsseldorfer Hofmusik an die nordbadische Residenz und schufen damit die Grundlage für die Entwicklung der später legendär gewordenen Mannheimer Hofkapelle. In dieser Tradition des Auserlesenen und der Experimentierfreude steht die Neue Düsseldorfer Hofmusik, die in ihrem Orchesterkonzert u.a. Werke aus dem reichhaltigen musikalischen Leben der ehemaligen Residenz am Rhein interpretiert.
Programmfolge
Ouverture D-Dur TWV 55: D 17
für 2 Hörner, Streicher, Oboen colla parte und Basso continuo
Ouverture, Les Janissaires, Menuet I+II, Espagniole, Carillon, À la Trompette, Bourrée
Ouverture c-Moll TWV 55: c 3
für Streicher, Oboen colla parte und Basso continuo
Ouverture, Prélude (Adagio), Aria I (Presto), Aria II (Vivace), Aria III (Vivace), Aria IV (Allegro), Aria V (Allegro), Aria VI (Presto)
Concerto D-Dur TWV 54: D 2
für 3 Hörner, Violine solo, Streicher und Basso continuo
Vivace, Grave, Presto
PAUSE
Georg Philipp Telemann
Concerto F-Dur TWV 52: F 3
für 2 Hörner, Streicher und Basso continuo
Largo, Allegro, Siciliana, Allegro
Antonio Vivaldi (1678-1741)
Concerto g-Moll RV 157
für Streicher und Basso continuo
Allegro, Largo, Allegro
Georg Philipp Telemann
Ouverture F-Dur TWV 55: F 3
für 2 Hörner, 2 Oboen, Streicher, Fagott und Basso continuo
Ouverture, Rondeau, Sarabande (Douce), Menuet, La Badinerie, Gigue, Réjouissance, Fanfare
Musikalisch stets zu Gast: Telemann am Darmstädter Hof
Die Neue Düsseldorfer Hofmusik hat sich zum vorrangigen Ziel gesetzt,
das reiche musikalische Erbe zu ergründen, das uns die pfälzischen
Kurfürsten hinterlassen haben, als sie im 18. Jahrhundert in
Düsseldorf residierten. Das klingt zunächst nach einem musealen
Unterfangen, doch in der Tat ist es gelungen, in den letzten fünf Jahren
eine ansehnliche Zahl von bemerkenswerten Kompositionen dem Staub der
Bibliotheken und Archive zu entreißen und für das Musikleben unserer
Tage wieder zu gewinnen, in dem das Interesse an der Musik aus der Zeit vor
der Wiener Klassik ständig wächst.
Sich ausschließlich dem Repertoire zu widmen, das einer einzigen
historischen Institution entstammt, würde aber nicht nur dem
künstlerischen Selbstverständnis der Musiker entgegenlaufen, es
würde auch im krassen Gegensatz zum Selbstverständnis jener weltoffenen
Fürstenhöfe stehen, von denen einst maßgebliche Impulse für
das internationale Musikleben ausgingen. So richten wir den Blick heute
Nachmittag auf eine andere Hofkapelle, die im 18. Jahrhundert in Deutschland
musikalische Maßstäbe setzte und deren Repertoire uns in
ungewöhnlicher Breite erhalten geblieben ist: auf Darmstadt, die Residenz
der hessischen Landgrafen.
Gleichzeitig ist das heutige Konzert demjenigen Komponisten gewidmet, der
mehr als die Hälfte des 18. Jahrhunderts, von seinen Studententagen
bis ins hohe Alter, im musikalischen Deutschland den Ton mit angab. Und das
in immer wieder origineller Art und Weise, die wir heute allmählich
wieder zu würdigen lernen: Die Rede ist von Georg Philipp Telemann,
dessen Werke damals in keiner Musikbibliothek von Rang fehlen durften.
Unschätzbare Bedeutung kommt dabei dem Bestand an Ouvertüren und
Konzerten Telemanns in der Hessischen Landesbibliothek zu: einem Repertoire,
das sich zum Teil aus alten Drucken, vor allem aber aus überwiegend
singulären Handschriften zusammensetzt, die für die Aufführungen
der Darmstädter Hofkapelle angefertigt wurde.
Dies zeugt von den engen Verbindungen Telemanns zu Darmstadt. Sie ergaben
sich zum einen dadurch, dass er Christoph Graupner (1683-1760) freundschaftlich
verbunden war, noch aus seiner Zeit als Student in Leipzig zwischen 1701
und 1704. Graupner, 1711 zum Darmstädter Hofkapellmeister ernannt,
prägte das Musikleben der hessischen Residenz von 1709 bis zu seinem
Tod. Er hat im Laufe der Zeit eine Reihe von Musikern nach Darmstadt geholt,
die er aus seiner Zeit als Leipziger Thomasschüler kannte: den
Vizekapellmeister Gottfried Grünewald (1675-1739), den Sänger und
Violinisten Johann Samuel Endler (1694-1762) sowie den Kammermusikus Michael
Boehm. Telemann selbst weilte dann zwischen 1712 und 1721 nahe der hessischen
Residenz als städtischer Kapellmeister und Musikdirektor in Frankfurt.
Bezeugt ist die Mitwirkung von Darmstädter Kapellmitgliedern bei Frankfurter
Aufführungen von Telemanns Serenata zu Ehren der kaiserlichen Familie
und seiner Brockes-Passion im Jahre 1716. Dem Passions-Konzert wohnte Landgraf
Ernst Ludwig VI. selbst bei, ein Beleg für die fürstliche
Wertschätzung Telemanns, die der Wechsel ins Hamburger Musikdirektoren-Amt
fünf Jahre später nicht trüben konnte. Auch unter der Regentschaft
von Ludwig VIII. von 1739 an blieben die guten Beziehungen zwischen Telemann
und dem Hause Hessen-Darmstadt bestehen; ihm widmete der 85-jährige
Komponist offenbar noch 1766 eine Orchestersuite.
Das Darmstädter Telemann-Repertoire spiegelt natürlich die Vorlieben
des Fürstenhauses wider, und so finden sich hier in erster Linie
Ouvertüren und Konzerte, die in ihrer Besetzung mit Streichern und
Bläsern höfische Pracht und Galanterie verbinden. Eine vorderhand
außermusikalische Vorliebe, die Ernst Ludwig und sein Sohn teilten
(und mit ihnen eine überwältigende Mehrheit der aristokratischen
Zeitgenossen), war die Jagd -- und das mit bedeutenden musikalischen
Konsequenzen. Die höfische Jagdlust hatte nämlich zu Beginn des
18. Jahrhunderts einem ursprünglichen Signalinstrument zu einer erstaunlich
steilen Virtuosenkarriere verholfen: dem Horn. So konstatiert Johann Matthesons
"Neu-eröffnetes Orchestre" von 1713, eine Art musikalisches Handbuch,
das sich einmal nicht in erster Linie an den Musikexperten, sondern an den
zeitgenössischen "galant-homme" richtete: "Die lieblich-pompeusen
Waldhörner, Ital. Cornette di Caccia, Gall. Cors de Chasse, sind bey
itziger Zeit sehr en vogue kommen, so wol was Kirchen- als Theatral- und
Cammer-Music anlanget, weil sie theils nicht so rude von Natur sind, als
die Trompeten, theils auch, weil sie mit mehr Facilité können
tractirt werden."
Die größere Leichtigkeit der Handhabung, von der Mattheson spricht,
bezieht sich darauf, dass die Hörner eigentlich wie die Trompeten der
Barockzeit nur diejenigen Töne hervorbringen konnten, die in der
Naturtonreihe ihrer Grundstimmung vorkamen. Da sie aber gegenüber den
Trompeten in der Regel eine Oktave tiefer klangen, ergab sich die
Möglichkeit zum Melodiespiel bereits in der wärmer klingenden mittleren
Tonlage. Darüber hinaus entwickelten die Horn-Virtuosen in der ersten
Hälfte des 18. Jahrhunderts die Technik des "Stopfens": Konnte der Spieler
die Töne bis dahin einzig durch unterschiedliche Lippenspannung erzeugen,
erweiterte das Einführen der Hand in die Schallstürze nun die
Größe des Tonvorrats beträchtlich -- und außerdem das
Spektrum der Klangfarben.
Die mit mindestens zwei Hörnern besetzten Ouvertüren und Konzerte
Telemanns, die heute erklingen, führen die unterschiedlichen
Möglichkeiten des barocken Corno da caccia ausführlich vor -- und
verlangen damit ihren Spielern einiges ab. Die wohldosierte farbliche
Bereicherung des Ensembleklanges in der Mittellage ist hier ebenso gefragt
wie der strahlende solistische Auftritt in der hohen Clarinlage, der sich
nicht auf die typischen Blechbläser-Fanfaren beschränkt, sondern
virtuose Melodiesequenzen vorführt -- bis hin zum gleichberechtigten
Dialog zwischen erstem Horn und erster Violine in der D-Dur-Ouvertüre,
deren Blechbläserpartien übrigens nach den Angaben des Manuskripts
wahlweise von Trompeten oder Hörnern gespielt werden können.
Dies alles wirft ein bezeichnendes Licht auf die Fähigkeiten der
Darmstädter Hornisten, deren Einsatz wohl vor allem im Jagdschloss
Kranichstein gefragt war. Hier hatte sich Johann Samuel Endler seit 1723
als Konzertmeister mit einem Teil der Kapelle aufzuhalten, um dem jagd- und
feierlustigen Hof mit entsprechender Musik zur Verfügung zu stehen.
In dieses Bild passt die Beobachtung, dass die Mehrheit der heute Nachmittag
zu hörenden Telemann-Werke in Endlers Handschrift (wohl aus den 1720er
und 1730er Jahren) überliefert ist.
Über alle Hörner-Virtuosität hinaus bieten Telemanns Kompositionen
aber auch noch einen bemerkenswerten Reichtum an thematischen und melodischen
Einfällen. Dabei erweisen sich vor allem die Ouvertüren als eine
Fundquelle für Charakterstücke, die wirkungsvoll die Konvention
jener Tanzsätze aufbrechen, die traditionsgemäß auf die
pathetische Einleitung folgen; dieser Wechsel der Farben und Stimmungen kann
sich, wie die c-Moll-Ouvertüre für Streicher (und Oboen ad libitum)
zeigt, sogar hinter einer Reihe von sechs "Arien" verbergen. Telemann gibt
hier Beispiele für Unterhaltungsmusik im besten Sinne: künstlerisch
anspruchsvoll und sinnlich ansprechend.
Einen kleinen Exkurs erlaubt sich die Neue Düsseldorfer Hofmusik mit
der Aufführung des Streicherkonzerts g-Moll von Antonio Vivaldi, das
ebenso wie Telemanns c-Moll-Stück den Hornisten die notwendige Erholung
vom anspruchsvollen Blechblasen verschafft. Dieses Vivaldi-Konzert lässt
sich im Gegensatz zu einer Reihe anderer Werke aus seiner Feder nicht im
Repertoire der Darmstädter Hofkapelle nachweisen, trotz einer direkten
Verbindung des Venezianers zur landgräflichen Familie: Vivaldi stand
von 1718 bis 1720 in Mantua in den Diensten des Habsburgischen Statthalters
Philipp von Hessen-Darmstadt, eines musikliebenden Fürsten, der ihm
den Titel eines "maestro di capella da camera" verlieh.
Quellen
Die Mehrheit der heute zu hörenden Telemann-Werke ist in der Handschrift von Johann Samuel Endler, wohl aus den 1720er und 1730er Jahren, überliefert. Die Neue Düsseldorfer Hofmusik musiziert aus Kopien dieser Manuskripte, für deren Bereitstellung der Hessischen Landes- und Hochschulbibliothek Darmstadt an dieser Stelle herzlich gedankt sei.
Mitwirkende
Wilhelm Bruns, Oliver Kersken, Stefan Oetter - Horn
Hans-Peter Westermann, Annette Spehr - Oboe
Mary Utiger (Konzertmeisterin), Eric Dorset, Amelia Roosevelt, Horst-Peter Steffen, Ilsebil Hünteler, Julia Huber, Gabriele Nußberger, Helmut Hausberg - Violine
Florian Schulte, Rachel Quinlan-Yates - Viola
Juris Teichmanis, Nicholas Selo - Violoncello
Michael Neuhaus - Kontrabass
Veit Scholz - Fagott
Joachim Held - Laute
Tobias Schade - Cembalo