Saison 2003/2004: Konzert 6

Sonntag, 7. März 2004 17 Uhr Sendesaal des Deutschlandfunks

Händels italienische Reise

Sonaten von Händel, Castrucci, Scarlatti, Corelli, Veracini und Geminiani Arcangelo Trio Sendung im Deutschlandfunk am 16.3.2004

Im Frühjahr 2001 gründeten der Flötist Daniel Rothert, der Cellist Markus Möllenbeck sowie der Cembalist Gerald Hambitzer auf Initiative von Helmut Müller-Brühl das Arcangelo Trio. Mit großem Elan begannen die drei durchaus schon in der Musikszene bekannten Musiker sich das Repertoire dieser fast klassisch zu nennenden Kammermusikbesetzung zu erschließen. Eine immense Zeitspanne vom späten 16. Jahrhundert bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts liefert so immer wieder neuen Stoff für spannende und abwechslungsreiche Programme. Virtuose aber auch anrührende Kammermusik erwartet den Hörer im Debütkonzert des Ensembles im Deutschlandfunk.

Programmfolge

Georg Friedrich Händel (1685-1759)
Sonate B-Dur ("Fitzwilliam") HWV 377
für Altblockflöte und Basso continuo
(Allegro) - Adagio - Allegro

Pietro Castrucci (1679-1752)
Sonate d-Moll op. 1,10
für Blockflöte und Basso continuo
Adagio - Allegro - Adagio - Allegro

Domenico Scarlatti (1685-1757)
Sonate A-Dur K. 208 (Andante e cantabile)
Sonate A-Dur K. 209 (Allegro)
für Cembalo solo

Arcangelo Corelli (1653-1713)
Sonate g-Moll "La Follia" op. 5,12
für Altblockflöte und Basso continuo

Pause

Francesco Maria Veracini (1690-1768)
Sonate a-Moll
für Altblockflöte und Basso continuo
Overtura. Allegro - Allegro - Paesana (Allegro) - Largo - Giga "Postiglione"

Francesco Geminiani (1687-1762)
Sonate d-Moll op. 5,2
für Violoncello und Basso continuo
Andante - Presto - Adagio - Allegro

Georg Friedrich Händel
Sonate a-Moll op. 1,4
für Altblockflöte und Basso continuo
Larghetto - Allegro - Adagio - Allegro

Einführung

Für Musiker war Italien von jeher das große Vorbild: Von Guillaume Dufay über Heinrich Schütz bis hin zu Wolfgang Amadeus Mozart traten Heerscharen von mehr oder minder bekannten und begabten Musikern die beschwerliche Reise über die Alpen an, um den erlesenen italienischen Geschmack in die Heimat zu exportieren und damit ihre Chancen auf eine gehobene Anstellung enorm zu steigern. 1706 brach der 21-jährige Georg Friedrich Händel nach Italien auf. Seine Reise führte ihn nach Florenz, Rom, Neapel und Venedig, bis er 1710 wieder in heimatliche Gefilde zurückkehrte. Besonders Rom wurde für den jungen Komponisten bedeutend, denn hier lernte er Arcangelo Corelli und Domenico Scarlatti kennen. Corelli befand sich seit 1690 in den Diensten des Kardinals Pietro Ottoboni, als dessen Violinvirtuose, Konzertmeister und Verwalter der Musiksammlung er fungierte. Ein Zusammentreffen zwischen dem jungen Händel und dem damals schon berühmten Corelli, bei dem dieser die im französischen Stil gehaltene Ouvertüre zu einem Händel-Oratorium von der Violine aus anführte, scheint allerdings nicht besonders harmonisch verlaufen sein. Johann Adam Hiller berichtet folgendes: "Die Musici aber, die nur an ihre italiänische Compositionen gewohnt waren, fanden verschiedene Schwierigkeiten darinne. Corelli selbst [...] beklagte sich darüber, und da er lange sich vergebens bemühet hatte, gewisse Stellen nach Händels Sinn und Meynung herauszubringen, riß dieser ihm, mit Ungestüm, die Violin aus der Hand, und spielte ihm diese Stellen vor." Corelli reagierte darauf ganz gelassen: "Diese Musik, mein lieber Sachse, ist im französischen Geschmacke, und darauf versteh ich mich nicht." Dafür verstand sich Corelli umso mehr auf den italienischen Instrumentalstil und gehört zu den wichtigsten Komponisten des barocken Concerto grosso und der kammermusikalischen Sonata. Tatsächlich widmete sich Corelli ausschließlich der Instrumentalmusik, kein einziges Vokalwerk ist von ihm überliefert. Seine Solo-Sonaten op. 5 aus dem Jahr 1700 erlebten bis 1815 allein 43 Auflagen in ganz Europa und wurden schon früh als wichtige Modelle für instrumentales Komponieren aufgefasst. Am Ende der Sammlung steht ein Variationssatz, bezeichnet als "Aria della Folia di Spagna", bei dem die Violine bzw. Flöte immer virtuosere Variationen über einem gleichbleibenden Bassmodell darbietet. Corellis "Folia" gehört aufgrund ihrer eindrücklichen Melodik und großen Virtuosität zu den populärsten Werken des Komponisten.

Neben Corelli begegnete Händel auch dem gleichaltrigen Domenico Scarlatti bei einem der wöchentlich stattfindenden Kammermusikkonzerte Ottobonis. Da beide junge Musiker als Tastenvirtuosen galten, fand ein Wettstreit statt, von dem berichtet wird, das Händel auf der Orgel und Scarlatti auf dem Cembalo besser abschnitt. Da verwundert es kaum, dass Scarlatti im Laufe seines Lebens mehrere hundert Sonaten für Cembalo schrieb. Besonders kultivierte er darin die einsätzige Sonate in zweiteiliger Form, für die er häufig nur ein Thema benutzte oder mehrere Themen aneinander reihte.

Wenden wir unseren Blick von Italien in nördlichere Gefilde, und zwar in das London des frühen 18. Jahrhunderts: Hier lebte und arbeitete Händel seit dem Jahr 1712 als Komponist, Lehrer und Opernunternehmer. Und auch hier gab es italienische Luft zu atmen, sorgte eine Vielzahl italienischer Musiker für die Präsenz des italienischen Gusto. Darunter befanden sich seit 1714/15 auch Pietro Castrucci, Francesco Maria Veracini und Francesco Geminiani, alle drei Schüler Corellis.

Pietro Castrucci ging 1715 mit dem Earl of Burlington, den er auf dessen Italienreise kennen gelernt hatte, nach England. Bald wurde er in London Konzertmeister von Händels Opernorchester - eine Position, die er 22 Jahre lang behalten sollte. In erster Linie war Castrucci als Violinvirtuose bekannt. Als Komponist veröffentlichte er neben kleineren Arbeiten lediglich drei Druckwerke mit Opuszahlen. Sowohl seine Violinsonaten op. 1 und op. 2 als auch seine Concerti grossi op. 3 sind an den Modellen seines Lehrmeisters orientiert. Die Sonate op. 1,10 entspricht mit ihrer Viersätzigkeit und der Satzfolge (langsam - schnell - langsam - schnell) den Kirchensonaten, wie Corelli sie komponiert hat. Sie erklingt im heutigen Konzert in einer Bearbeitung für Blockflöte und Basso continuo.

Francesco Veracini, einer der wichtigsten Geiger des frühen 18. Jahrhunderts, verbrachte einige Zeit am glanzvollen Dresdner Hof Augusts des Starken, bevor er nach London ging. Im Jahr 1720 erschien in Amsterdam Veracinis Opus 1, das wie Corellis Opus 5 einen Zyklus von sechs Kammersonaten und sechs Kirchensonaten bildet. Die a-Moll-Sonate ist eine historische Bearbeitung für Altblockflöte und Basso continuo, die verschiedene Sätze aus Opus 1 zu einer Sonata zusammenstellt. Dabei fällt auf, dass den ersten Satz eine französische Ouvertüre bildet. Vermutlich hat Veracini den französischen Stil in Dresden bei seinen deutschen Kollegen kennen gelernt, bei denen der "Vermischte Geschmack", eine Mischung aus französischem und italienischem Stil, en vogue war. Erwähnenswert ist zudem der letzte Satz: eine Giga mit dem Titel "Postiglione" -- der Postkutscher wird hier mit entsprechenden musikalischen Fanfaren dargestellt.

Im Gegensatz zu Castrucci und Veracini scheint Francesco Geminiani lediglich Geigenschüler Corellis gewesen zu sein, seinen Kompositionsunterricht dagegen bei Alessandro Scarlatti genossen zu haben. In London lebte er von Unterrichtsstunden und Konzerten, in denen er sich der Öffentlichkeit als Virtuose vorstellte. Händel lernte Geminiani kennen, als er diesen bei seinen ersten Konzerten in England auf dem Cembalo begleitete. Insgesamt hat Geminiani relativ wenig komponiert: Sein Werk umfasst einige Serien mit Violinmusik, sechs Cellosonaten und einige Concerti grossi. Von besonderer Bedeutung sind die Cellosonaten, da der Aufstieg dieses Instruments erst Ende des 17. Jahrhunderts begonnen hatte. Sie wurden 1746 in Paris und ein Jahr später in London herausgegeben. In seinen Sonaten lehnt Geminiani sich an die viersätzige Form Corellis mit den entsprechenden Tempowechseln an. Im Gegensatz zu Corelli sorgt Geminianis Harmonik aber häufig für unerwartete Wendungen, außerdem benutzt er mehr Chromatik, einen freieren Rhythmus und weniger festgelegte Formen. Die langsamen Sätze sind oft sehr expressiv, die schnellen dagegen dramatisch und zuweilen auch brillant.

Als Händel in den Jahren 1724 bis 1726 seine neun Sonaten für verschiedene Soloinstrumente und Basso continuo komponierte, stand er auf dem Höhepunkt seiner Karriere als Opernkomponist in London. Es gibt dennoch verschiedene Gründe, aus denen er sich in dieser Zeit der Komposition von instrumentalen Werken zuwandte. Die Musiker aus Händels Opernorchester, insbesondere die Bläser, besserten nämlich ihren Verdienst durch musikalische Gelegenheits-Engagements auf und benötigten dafür entsprechendes Repertoire. Dabei handelte es sich zum Teil um eigenständige Konzerte, zum Teil auch um kurze Darbietungen während der Pausen im Opernhaus oder Theater. Besonders beliebt waren bei solchen Gelegenheiten Instrumentalsätze, die sich an Opernarien der gerade aktuellen Händel-Oper anlehnten. Ein anderer Grund, der Händel bewegt haben mag, in diesen Jahren solistische Sonaten zu schreiben, hängt mit seiner Unterrichtstätigkeit bei den beiden Prinzessinnen Anne und Caroline, Töchtern des späteren Königs Georg II., zusammen. Die besonders reiche Bezifferung einiger seiner Sonaten für Soloinstrument und Basso continuo weist darauf hin, dass er diese Werke möglicherweise als Übungsstücke zum Continuospiel für seine beiden Schülerinnen komponierte. Die Sonate B-Dur HWV 377 gehört zu den drei "Fitzwilliam-Sonaten", benannt nach dem Fitzwilliam-Museum in Cambridge, wo der englische Musikwissenschaftler Thurston Dart die Sonaten im 20. Jahrhundert wieder entdeckte, dann aber leider zum Teil in sehr manipulierten Fassungen herausgab. Am Schluss des heutigen Konzerts steht die Sonate a-Moll HWV 362. Ihre Melodielinien tragen vielfach vokalen Charakter; der zweite Satz beispielsweise könnte mit seinem Gegensatz aus langsamer Melodie in kurzen Phrasen und schnellem Bass die Wut-Arie einer Buffo-Oper sein.

Händel als Instrumentalkomponisten, der vielfältige Erfahrungen und Eindrücke auf seiner Reise nach Italien gesammelt hat, und den Umkreis seiner italienischen Zeitgenossen vorzustellen, ist das Anliegen des heutigen Konzerts. Ob Ihnen Händels Musik gefällt, müssen Sie selbst beurteilen. Ludwig van Beethoven kam jedenfalls bereits 1824 zu der Einschätzung: "Händel ist der größte Komponist, der je gelebt hat."

Susanne Herzog

Mitwirkende

Arcangelo Trio
Daniel Rothert, Flöte
Markus Möllenbeck, Violoncello
Gerald Hambitzer, Cembalo