Saison 2004/2005: Konzert 1

Sonntag, 26. September 2004 17 Uhr Sendesaal des Deutschlandfunks

Symphonische Wege zu Beethoven

Cappella Coloniensis Ltg. Bruno Weil Bruno Weil Sendung im Deutschlandfunk am 5.10.2004

1954 schlug die Geburtsstunde der Cappella coloniensis, die vom damaligen Nordwestdeutschen Rundfunk Köln als Orchester für historische Aufführungspraxis ins Leben gerufen wurde. Als Cappella coloniensis des WDR hat sie mit vielen namhaften Ensembleleitern zusammengearbeitet. Hier nun präsentiert sich die Cappella in einem ihrer ersten Konzerte in eigener Trägerschaft. Konzentrierte sich das Ensemble zunächst auf frühklassische und klassische Musik, so hat sich sein Repertoire inzwischen bis zur Musik des 19. Jahrhunderts ausgedehnt. Aus dieser Zeit erklingen symphonische Kompositionen von Mozart und Michael Haydn, dann die zeitweise Beethoven zugeschriebene "Jenaer Sinfonie" von Friedrich Witt sowie die 4. Symphonie Beethovens.

Programmfolge

Wolfgang Amadeus Mozart (1756-1791)
Introduktion KV 444
zur Sinfonia in G von Michael Haydn
Adagio

Michael Haydn (1737-1806)
Sinfonia in G Perger 16
Allegro con spirito
Andante sostenuto
Finale. Allegro molto

Friedrich Witt (1770-1836)
Sinfonie C-Dur ("Jenaer Sinfonie")
Adagio - Allegro vivace
Adagio cantabile
Menuett
Finale. Allegro

Pause

Ludwig van Beethoven (1770-1827)
Sinfonie Nr. 4 B-Dur op. 60
Adagio - Allegro vivace
Adagio
Allegro vivace
Allegro ma non troppo

Grusswort

Herzliche Glückwünsche dem Jubilar, der Cappella Coloniensis, der sich das Konzert zum 50. Geburtstag heute selbst ausrichtet - dankenswerterweise in Zusammenarbeit mit dem "Forum Alte Musik" der Stadt Köln und dem Deutschlandfunk. Das Land Nordrhein-Westfalen, die rheinische Musikszene, die Stadt Köln und wir Hörer können froh sein, diesen Klangkörper wieder in seiner bekannten Frische und seinem typischen Klangbild zu hören.

Im Alter von 50 etwas Neues zu wagen, traut sich nicht jeder. Die Cappella Coloniensis begibt sich als selbständiger Klangkörper im Bereich der "Musik auf Originalinstrumenten" in das Abenteuer des Kulturbetriebes. Damit bleibt sich die "CC" treu in ihrer Charakteristik, immer nach vorne zu sehen, immer neuen Grund zu betreten und stets Neues auszuprobieren. Wir können alle den Hut ziehen vor dem Mut und dem unbändigen Willen, gerade in der heutigen Zeit den Weg zu einem mutigen Start und Neuanfang zu wagen.

Die 39 außergewöhnlichen Musiker der Cappella kommen aus vielen Regionen Zentraleuropas. Mit ihrem musikalischen Leiter, Professor Bruno Weil, schaffen sie für uns Zuhörer ungewohnte Klang- und aufregende Hörerfahrungen aus Klassik und Romantik.

Ein Markenzeichen für innovatives Musizieren, für sinnliches Klangempfinden und außergewöhnliches Engagement - das ist die Cappella Coloniensis. Ich bin zuversichtlich, dass sie diesen Anspruch auch in Zukunft erfüllt. Sie ist ein wichtiger Bestandteil des kulturellen Lebens in der Region und eine Botschafterin weit über unsere Grenzen hinaus.

Dr. Michael Vesper
Minister für Städtebau und Wohnen,
Kultur und Sport
des Landes Nordrhein-Westfalen

Liebe Musikfreundinnen und Musikfreunde!

Als 1954, also genau vor 50 Jahren, die Cappella Coloniensis ins Leben gerufen wurde, konnte keiner jener Gründerväter ahnen, dass die Bewegung, die sie in Gang setzten, von so nachhaltiger, ja geradezu revolutionärer Bedeutung für das gesamte Musikleben werden würde. Die Aufgabe, die Musik so authentisch zum Klingen zu bringen, wie sie sich der Komponist am Tage ihrer Entstehung im Kopf und im Herzen vorstellte, hat seitdem die Musiker auf der ganzen Welt fasziniert. Für Sie, die Hörerinnen und Hörer unserer Konzerte und Aufnahmen, ist die so genannte "Historische Aufführungspraxis" zur ganz normalen und alltäglichen Hörgewohnheit geworden, die Sie sicherlich nicht mehr missen möchten.

Der Westdeutsche Rundfunk hat die Cappella fünfzig Jahre lang gehegt und gepflegt und sich damit unschätzbare Verdienste um die Musikforschung erworben. Nun steht die Cappella Coloniensis in freudiger Aufbruchstimmung und mit großem Enthusiasmus auf eigenen Beinen. Wir werden die Tradition fortsetzen und dort anknüpfen, wo wir nach vielen interessanten Projekten der vergangenen Jahre und vor kurzem mit der spektakulären Aufführung des "Fliegenden Holländers" angekommen sind: Altes bewahren und pflegen, aber offen sein für neue, innovative und aufregende Musizier- und Hörerlebnisse.

Wir freuen uns von ganzem Herzen, dass Sie heute mit diesem Konzert mit uns Geburtstag feiern und gleichzeitig den Beginn einer neuen Ära der Cappella Coloniensis erleben wollen. Bleiben Sie uns weiterhin treu und gewogen und freuen Sie sich mit uns auf eine Zukunft, die reich sein soll an künstlerischen Erlebnissen, an musikalischen Höhepunkten und vielen Begegnungen zwischen Ihnen, unserem Publikum, und uns, den Musikerinnen und Musikern Ihrer Cappella Coloniensis!

Klaus Dieter Bachmann
Sprecher der Cappella Coloniensis

Ein Konzert irrtümlicher Zuschreibungen

Für den musikgeschichtlichen Begriff der Wiener Klassik sind drei Komponistennamen zu Synonymen geworden und aus den Programmen im aktuellen Konzertleben kaum mehr wegzudenken: Haydn - Mozart - Beethoven. Wenn sich die Cappella Coloniensis heute diesem Gebiet zuwendet, dann, um hier ein starres Begriffsschema wenn nicht aufzubrechen, so doch aufzulockern. Denn "irrtümliche Zuschreibungen" setzen dabei die Akzente: eine Sinfonie von Michael Haydn, die mehr als 40 Jahre als Werk Wolfgang Amadeus Mozarts galt, und eine vermeintliche Jugendsinfonie von Ludwig van Beethoven.

Während Wolfgang Amadeus Mozart nach dem Bruch mit seinem erzbischöflichen Dienstherrn und dem berühmt-berüchtigten Fußtritt des Grafen Arco voller Zorn und Verachtung seiner Geburtsstadt Salzburg den Rücken kehrte, fand Michael Haydn hier für 43 Jahre seine künstlerische und menschliche Heimat. Am 14. August 1763 war er als Hofmusicus und Concertmeister (er spielte Violine) an die Salzburger Hofkapelle verpflichtet worden. Die häufige Abwesenheit des designierten Vizekapellmeisters Leopold Mozart, der sich zum Zeitpunkt von Haydns Anstellung mit seinem sechsjährigen Sohn und der älteren Schwester Nannerl auf einer nicht weniger als drei Jahre dauernden Konzertreise befand, stellte den jungen Konzertmeister vor unerwartete Aufgaben. Ihm fiel es zu, den Salzburger Hof in allen Bereichen mit Musik zu beliefern, seine neuen Kompositionen einzustudieren und auch zu leiten. Das war Grund genug für den stets Intrigen witternden Vater Mozart, dem neuen Musiker bei seiner Rückkehr nicht allzu freundlich gesonnen zu sein. Nur allmählich fanden die musikalischen Erfolge Michael Haydns bei ihm Gnade, und 1778 konnte er sich gegenüber seinem Sohn zu einem versöhnlichen Urteil durchringen: "Herr Haydn ist doch ein Mann, dem Du seine Verdienste in der Musik nicht absprechen wirst."

Der junge Mozart brachte dem älteren Kollegen ein reges künstlerisches Interesse entgegen. Noch später in Wien setzte er sich mit Michael Haydns kirchenmusikalischen Kompositionen auseinander, und auch an seinen Sinfonien war er interessiert. Als er im Spätsommer 1783 ein letztes Mal nach Salzburg zurückkehrte, konnte er ihm aus einer Verlegenheit helfen. Er komponierte für ihn zwei Duette für Viola und Violine, die Haydn dringend beim Erzbischof abgeben musste. Bei dieser Gelegenheit gelangte Mozart vielleicht auch in den Besitz der G-Dur-Sinfonie. Jedenfalls nennt er in einem Brief vom Mai 1784 drei der neuesten Sinfonien von Haydn sein Eigen - und meinte damit wohl Michael Haydn.

Die G-Dur-Sinfonie für Flöte, je zwei Oboen und Fagotte, Hörner und Streicher stammt aus dem Frühjahr 1783. Die wunderbaren collaparte-Führungen der Holzbläser im Streichersatz, vor allem die beiden im Mittelteil des zweiten Satzes solistisch hervortretenden Fagotte sorgen für jene höchst ungewöhnlichen Klangmischungen, mit denen Haydn in den langsamen Sätzen gerne experimentierte. Inspiriert von diesem Werk, komponierte Mozart eine würdevolle Introduktion, die direkt in Haydns ersten Satz überleitet. Ihn und die erste Hälfte des folgenden Andante hat Mozart auch eigenhändig abgeschrieben. Die gesamte Sinfonie samt Introduktion fand sich später in seinem Nachlass und wurde von Ludwig Ritter von Köchel unter der Nummer 444 in das alte Mozart-Werkverzeichnis aufgenommen. 1907 erst bewiesen dann die Musikwissenschaftler Lothar Perger und Georges de Saint-Foix, dass die Sinfonie (abgesehen von der Einleitung) nicht von Mozart, sondern von Michael Haydn stammt. Eine akribische Analyse des Notenpapiers durch Alan Tyson schaffte kürzlich weitere Klarheit: Mozart hat die Introduktion erst 1784 in Wien komponiert.

Die zweite Fehlzuschreibung im heutigen Programm traf eine Sinfonie in C-Dur, kaum dass sie 1909 im Archiv der Akademischen Konzerte in Jena wieder entdeckt worden war. Heute mutet es fast wie ein Sakrileg an, dass man sie dem größten klassischen Komponisten zuwies: Ludwig van Beethoven. Dabei war der im württembergischen Niederstetten geborene Friedrich Witt, der sich letztendlich als ihr Urheber herausstellte - ein Violoncellist, Kapellmeister, Komponist, zuletzt Leiter das Würzburger Theaters -, kein unbeschriebenes Blatt. So gab E.Th.A. Hoffmann sein Debüt als Musikkritiker bei der Allgemeinen Musikzeitschrift im Mai 1809 mit Rezensionen seiner Sinfonien: "Was die Zusammenstellung der Sätze, Instrumentierungen betrifft, hat sich Herr Witt als ein gründlich, verständiger Komponist gezeigt." Ernst Ludwig Gerber erwähnt ihn 1814 in seinem Biographischen Lexikon der Tonkünstler und listet einen umfangreichen Werkkatalog auf: Oratorien, Opern, Instrumentalkonzerte und "mehrere Sinfonien, wovon seit 1805 zu Offenbach sechs Stücke gestochen worden, welche als Lieblingsstücke in unseren Konzerten aufgenommen sind".

Als die C-Dur-Sinfonie wieder ans Tageslicht kam, wollte freilich niemand an Witt denken. Die zweite Violinstimme war mit "par Louis van Beethoven" bezeichnet, und in den Cellostimmen fand sich der Zusatz "Symphonie von Bethoven". Zumindest als ein Jugendwerk des sinfonischen Genius sollte sie also gelten dürfen, wusste man doch aus den Skizzenbüchern, dass Beethoven sich bereits früh mit sinfonischen Plänen trug. Fleißig sezierte nun Friedrich Wilhelm Stein, damals Musikdirektor in Jena, die "Beethovenianismen" des Werks - hier eine typische Nachahmung, dort rhythmische Verschiebungen gegen den Takt. Auch Einflüsse von späten Sinfonien Joseph Haydns stellte er fest, den Beethoven bei dessen Rückreise von London 1792 in Bonn getroffen hatte. In diesem Sinne edierte Stein das viersätzige Werk 1911 bei Breitkopf & Härtel. Doch gerade die "Haydnianismen" entlarvten schließlich Witt als den wirklichen Komponisten, denn er pflegte auch in anderen Kompositionen Haydn-Sinfonien wie geheime "Masterpläne" einzusetzen. H. C. Robbins Landon fand 1950 im Landesarchiv Rudolstadt übereinstimmende handschriftliche Stimmen mit dem Vermerk "Di Witt", weitere handschriftliche Orchesterstimmen aus dem Kloster Göttweig und ein Incipit in einem thematischen Verzeichnis bestätigten Witt als Autor. Die Einflüsse Haydns erklären sich durch Witts Anstellung als Violoncellist bei Prinz Kraft Ernst von Oettingen-Wallerstein zwischen 1789 und 1796. Der unterhielt im späten 18. Jahrhundert eine der führenden Hofkapellen in Deutschland und war ein Verehrer Haydns.

"Lieber Beethoven! Sie reisen itzt nach Wien zur Erfüllung ihrer so lang bestrittenen Wünsche... Erhalten Sie: Mozarts Geist aus Haydns Händen!" Diese Worte gab der Gönner Ferdinand Graf Waldstein seinem Schützling Ludwig van Beethoven mit, bevor dieser sich im November 1792 auf den Weg machte, um bei Joseph Haydn zu studieren. Das Verhältnis zwischen dem alternden Lehrer und dem genialischem Schüler blieb allerdings eher distanziert, und Beethoven zog es bald vor, bei Johann Georg Albrechtsberger, dem Kapellmeister am Stephansdom, und beim Hofkapellmeister Antonio Salieri in die Lehre zu gehen. Dann wagte er es, ohne feste Anstellung und ohne Dienstherrn hauptsächlich von seinen Kompositionen zu leben. Ein Kreis von Aristokraten unterstützte ihn. Beethoven konnte allerdings empfindlich reagieren, wenn sich die Mäzene wie Dienstherren aufspielten. Von Fürst Lichnowsky auf dessen schlesisches Gut eingeladen, endete Beethovens Aufenthalt dort, als er durch nichts zu bewegen war, vor eingeladenen französischen Offizieren zu musizieren. Eine Drohung mit Hausarrest soll Beethoven zur Flucht bei Nacht und Nebel veranlasst haben. Als er dann seine vierte Sinfonie lieber Lichnowskys Gutsnachbarn Franz Graf Oppersdorff widmete, schrieb er: "Meine Umstände bessern sich - ohne Leute dazu nötig zu haben, welche ihre Freunde mit Flegeln traktieren wollen."

Beethoven vollendete die Sinfonie 1806, im Todesjahr von Michael Haydn. Die Uraufführung fand im März 1807 im Palais des Fürsten Lobkowitz statt, die erste öffentliche Aufführung im November desselben Jahres im Wiener Burgtheater. Beethoven selbst stand am Dirigentenpult. Mit Begriffen wie "kühne Originalität" und "Fülle der Kraft" reagierten damals die Kritiker, monierten aber auch eine "Vernachlässigung edler Simplizität" und eine "allzu fruchtbare Anhäufung von Gedanken, die wegen ihrer Menge nicht immer hinlänglich verschmolzen und verarbeitet sind." Beethovens Kraft verstörte, selbst in diesem Werk, das inzwischen wegen seines hellen, bewegt-idyllischen Charakters geschätzt wird. Robert Schumann empfand es drei Jahrzehnte nach der Uraufführung als "griechisch-schlank". Ihm und seinem Freund Felix Mendelssohn wurde es zum Schlüsselwerk, als "romantischste" aller Sinfonien. Vielleicht ihrer langsamen, ausgedehnten und harmonisch unbestimmten Einleitung wegen, die aus dem Zwang zur Vermeidung des Definitiven ein Formgesetz zu machen scheint. Dann die Fülle von Gedanken, die im nächsten Satz locker und schwungvoll aneinander gereiht folgen. Der Schriftsteller Jean Paul, der die Sinfonie 1812, also fünf Jahre nach der Uraufführung erlebte, bemerkte: "An Schwierigkeit der Exekution steht sie keiner (der früheren und auch nicht der fünften Sinfonie Beethovens) nach. Besonders wohltätig wirkten die so gut besetzten Blasinstrumente: und so war denn auch die Wirkung auf die Zuhörer erwünscht; das Publikum applaudierte jedem Satze, und bewies dadurch von neuem, wie empfänglich es für gute Ensembles ist!"

Sabine Weber

Mitwirkende

Cappella Coloniensis
Violine 1
Hiro Kurosaki (Konzertmeister), Gerhard Peters, Christoph Mayer, Johannes Gebauer, Annegret Siedel, Adelheid Neumayer-Goosses, Katrin Ebert, Fiona Stevens

Violine 2
Andrea Keller, Christine Moran, Ilsebill Hünteler, Christoph Timpe, Ulrike Fischer, Anna Gärtner

Viola
Stefan Schmidt, Andreas Gilly, Jane Oldham, Kai Köpp, Klaus D. Bachmann

Violoncello
Antje Geusen, Rainer Zipperling, Susanne Hartig, Matthias Hofmann

Kontrabass
Dieter Eschmann, Johannes Esser, Raimund Adamsky

Flöte
Konrad Hünteler

Oboe
Michael Niesemann, Renate Hildebrandt

Klarinette Diego Montes, Philip Castejon

Fagott
Claude Wassmer, Ilka Wagner

Horn
Christoph Moinian, Oliver Kersken

Trompete
Karl Heinz Halder, Ekkehart Kleinbub

Pauke
Stefan Wissemann

Cembalo
Harald Hoeren
Ltg. Bruno Weil