Saison 2006/2007: Konzert 2

Sonntag, 22. Oktober 2006 17 Uhr Sendesaal des Deutschlandfunks

Endzeitfragmente

Sequentia Benjamin Bagby - Gesang, Harfe, Leier Norbert Rodenkirchen - Flöten, Leier Sequentia Sendung im Deutschlandfunk am 31.10.2006

Von der Zeit der Christianisierung bis zur ersten Jahrtausendwende spielten Vorstellungen vom Ende der Zeit und vom Jüngsten Gericht eine bedeutende Rolle im Reichsgebiet der Karolinger. Sequentia hat Gesänge ausgegraben, die sich im Spannungsfeld zwischen christlicher Apokalypse und heidnisch-germanischen Endzeitvisionen bewegen, u.a. das althochdeutsche Fragment »Muspilli«, Auszüge aus der »Evangelienharmonie« des Otfrid von Weißenburg sowie den altangelsächsischen »Gesang vom letzten Überlebenden«. Umrahmt wird der rezitierende Vortrag von Flötenimprovisationen über frühe Sequenzmelodien. Die beiden herausragenden Interpreten mittelalterlicher Musik spielen auf Nachbauten von germanischen Leiern des 7. Jahrhunderts, mittelalterlichen Harfen und Flöten.

Programmfolge

Fortis atque amara
Fränkische Sequenz (9. Jahrhundert)
Text...

...sin tac piqueme, daz er touuan scal
Das »Muspilli«-Fragment (vermutlich Fulda, frühes 9. Jahrhundert)
Text...

Unsar trohtin hat farsalt
basierend auf dem »Freisinger Petruslied« aus dem späten 9. Jahrhundert

Thes habet er ubar woroltring
»De die Iudicii« aus dem Evangelienbuch des Otfrid von Weißenburg (gest. 875)
Text...

Gaude coelestis sponsa
basierend auf fränkischen Sequenzmelodien aus dem 9. Jahrhundert

Thaer waes swylcra fela
»Der Gesang vom letzten Überlebenden« aus dem Beowulf-Epos (angelsächsisch, vermutlich 8. Jahrhundert)
Text...

Occidentana
basierend auf fränkischen Sequenzmelodien aus dem 9. Jahrhundert

Iudicii signum
»Die Prophezeihung der Erythräischen Sybille« (Aquitanien, 11. Jahrhundert)
Text...

Scalam ad caelos
basierend auf fränkischen Sequenzmelodien aus dem 9. Jahrhundert

Summi regis archangele Michahel
»Sequentia‚ quam Alcuinus composuit Karolo Imperatori« (Einsiedeln, 10. Jahrhundert, Ursprung im 8. Jahrhundert?)
Text...

A fellr austan um eitrdala
»Die Prophezeihung der Seherin« aus der Edda (Island, 10. Jahrhundert)
Text...

Musikalische Rekonstruktionen von Benjamin Bagby und Norbert Rodenkirchen. Das Konzert dauert ca. 75 Minuten und wird ohne Pause gegeben.

Endzeitfragmente

Von der Zeit der Christianisierung bis zum Ende des ersten Jahrtausends waren die apokalyptischen Bilder vom Ende der Tage und vom Jüngsten Gericht weit verbreitet, sowohl in Texten als auch in der bildenden Kunst. Diese Bilder, die hauptsächlich auf der biblischen Offenbarung des Johannes basieren, zeigen bisweilen erstaunliche Ähnlichkeiten mit den germanischen Beschreibungen der Zerstörung der Welt während der fürchterlichen letzten Schlacht (Ragnarök) zwischen den heidnischen Göttern (Odin, Thor usw.) und ihren Erzfeinden, den Riesen. Die sehr gegensätzlichen heidnischen und christlichen Quellen haben einige gemeinsame Charakteristika: die Prophezeiungen von weiblichen Orakeln; den Klang des Horns; die Bedrohung durch übernatürliche Bestien wie Schlangen und Drachen, die Ansammlung von Armeen des Unten und des Oben; den Zusammenbruch der materiellen Welt und schließlich die Zerstörung der Welt durch Feuer.

Das am schnellsten ins Auge springende Bild der Apokalypse ist verbunden mit dem rational nicht zu erfassenden Mysterium vom Ende der Zeit, erfüllt von Terror und Zerstörung. Wir begegnen der erschreckenden Vision der vier Reiter, die über die untergehende Welt hinwegpreschen. Aber das griechische Wort apokalypsis heißt in Wirklichkeit »Enthüllung«, »Offenbarung«, eine Vorstellung, die eng an unsere Sehnsucht gekoppelt ist, einen Zugang zu den Geheimnissen der Existenz über die Sterblichkeit hinaus zu erhalten, und an unser fast körperliches Verlangen nach Einheit mit der Schöpfung und dem Göttlichen. Das Buch der Offenbarung ist nicht nur ein gläubiger Bericht über das, was der Evangelist Johannes in seinen Visionen auf der Insel Patmos sah und hörte, es ist auch voller Ungeduld und Verlangen. Oft unter Verwendung obskurer Allegorien, visionärer und prophetischer Sprachhaltung schufen die mittelalterlichen Künstler ein besonders kraftvolles Werk singend vorzutragender Dichtungen, um Sänger und Zuhörer gleichermaßen auf eine innere Reise des Verstehens vorzubereiten, die Seele für die Erfahrung dessen zu sensibilisieren, was eines Tages offenbar werden wird.

In unserem Programm erforschen wir die musikalische Welt dieser überraschenden, kraftvollen Texte, zu der uns mit eindringlichen Bildern die meisterhafte Sequenz Fortis atque amara aus fränkischer Tradtion einen Zugang gewährt. Einige der folgenden Stücke sind nur als Fragment überliefert. So das althochdeutsche ...sin tac piqueme, daz er touuan scal. Es wurde im 19. Jahrhundert nach dem mysteriösen Wort Muspilli benannt, das generell mit dem Ende der Welt durch Feuer in Verbindung gebracht wird -- ein heidnisch-germanischer Begriff, der im christlichen Kontext überlebte. Der predigtähnliche Vortrag strömt frei durch eine Reihe von Bildern: Armeen von Engeln und Dämonen, die um die gerade gestorbene Seele kämpfen; die Sicherheit und Süße des Paradieses; der Kampf des Elias mit dem Antichrist; das Verbrennen von Erde und Himmeln als Zeichen des heranrückenden Gerichts; der Schall des Horns, der die Toten aufstehen lässt, damit sie ihrem Richter gegenübertreten; die Unmöglichkeit zu bestechen oder vergangene Verbrechen zu verbergen.

Thes habet er ubar woroltring bildet die ans Herz gehende Beschreibung des Letzten Gerichtstages aus dem Evangelienbuch des Elsässer Mönchs Otfrid von Weißenburg (er ist der erste deutsche Dichter, den wir mit Namen kennen). Otfrid notierte Kommentare und Paraphrasen zur Bibel im lokalen Dialekt seiner Mitbrüder und naher Adeliger. In seinem Prolog erwähnt er eine fromme Dame namens Judith, die ihn zu dem Werk gedrängt habe. Die Verse waren nicht zum stillen Lesen gedacht, sondern wurden wohl vor einem gebildeten, quasi vorliterarischen, aber auch juristisch kundigen Publikum musikalisch vorgetragen. Somit bekommen wir nicht nur eine Ahnung von Otfrids persönlichem Engagement für die furchterregende Geschichte, die er erzählen will, sondern erfahren auch etwas über die karolingischen Gebräuche der Rechtssprechung.

Als Gesang des letzten Überlebenden berichtet Thaer waes swylcra fela vom Ende eines Volkes, von der bitteren Konfrontation mit dem Verlust aller Freunde, der Familie, der Besitztümer und Erinnerungen, und kann so als ein Mikrokosmos des Weltendes angesehen werden. Im Beowulf-Epos bildet es ein trauriges Vorspiel zu der Episode vom gestohlenen Kelch aus dem goldenen Schatz in der Drachenhöhle. Wir erfahren wir, dass ein kompletter nordischer Stamm, dessen Name unerwähnt bleibt, durch Krieg vernichtet worden ist und nur ein einziger Mann am Leben bleibt. Er schafft als eine letzte Geste der Erinnerung die Schätze seines Volkes (Gold, Waffen und sogar eine Harfe) in eine nahe gelegene Höhle und verfällt in eine elegische Klage, bevor auch er in einen einsamen Tod hinübergleitet. Der versteckte Schatz wird später von einem Drachen entdeckt, einer übernatürlichen Kreatur, die in der christlichen Tradition oft in einen Zusammenhang mit der Apokalypse gebracht wird.

Iudicii signum ist die Prophezeiung der Erythräischen Sybille, eines heidnischen Orakels, das zur Zeit Trojas gelebt haben soll. Ihre Worte finden sich in einem akrostischen Gedicht aus dem Gottesstaat des Augustinus. Die Version in unserem Programm wurde in aquitanischen Klöstern zum Fest der unschuldigen Kinder am 28. Dezember gesungen, das in enger Beziehung zu apokalyptischen Themen steht.

Eine der am weitesten verbreiteten Sequenzen des Mittelalters ist Summi regis archangele Michahel. In einer ausdrücklichen Widmung des Mönchs Alkuin an Kaiser Karl den Großen wird deutlich, dass der Sänger in der Sequenz den Kaiser mit dem Erzengel Michael ideell gleichsetzt, der zur Erlösung der Menschheit den Drachen besiegt hat. Vielleicht lässt sich die Faszination der mittelalterlichen Menschen an der christlichen Gestalt des Drachentöters mit der damals unterschwellig noch lebendigen heidnischen Mythologie erklären und der darin vorkommenden Unzahl an schlangen- oder drachenartigen Ungeheuern, besonders im Zusammenhang mit dem Weltuntergang. Bei Summi regis ist aufgrund der Quellenlage unklar, ob es sich tatsächlich um eine Originalsequenz von Alkuin handelt oder lediglich um eine Nachdichtung des 10. Jahrhunderts. Alkuin weilte von 782 bis 789 im Frankenreich und wirkte im Gelehrtenkreis um Karl den Großen.

Eine der berühmtesten altisländischen Lieddichtungen ist Völuspá, die Prophezeihung der Seherin (Völva) aus der alt-isländischen Edda: eine überwältigende visionäre Beschreibung von der Erschaffung der Welt, vom Auftauchen der Götter und Zwerge, und schließlich - im heute vorgetragenen Auszug A fellr austan um eitrdala - vom feurigen Weltende wie auch vom Schicksal der Götter. Wenngleich unsere Quelle, der Codex Regius, in seiner schriftlichen Form erst aus dem 13. Jahrhundert stammt, ist das darin enthaltene mündlich überlieferte Repertoire der Epensänger nachweislich um viele Jahrhunderte älter.

Die Sequenzmelodien aus der Zeit des St. Gallener Mönchs Notker (ca. 840-912) wurden teilweise auch textlos als sogenannte Sequelae in Neumenschrift niedergelegt. Erschließen lassen sie sich im genauen Notentext leider erst von späteren Quellen, was aber aufgrund ihrer kontinuierlichen, reichhaltigen Überlieferung über Jahrhunderte hinweg dennoch ein relativ klares Bild von ihrer Gestalt ergibt. Eine Sequela konnte mit hoher Wahrscheinlichkeit auch instrumental ausgeführt werden. Die Melodien waren schon vor der Textdichtung vorhanden und entstammen nicht dem gregorianischen Repertoire. Sie weisen also eventuell auf eine vorchristliche Tradition hin. In den ex tempore vorgetragenen Flöteninterludien dieses Programms geht es vorrangig um auffällige Verwandtschaften zwischen verschiedenen Sequenzen, die den Schluss zulassen, dass sich der melodische Strom dieser frühmittelalterlichen Gattung auf eine knappe Handvoll archetypischer Phrasen zurückführen lässt - sozusagen auf einige wenige »Ursequenzen«, die hier in der instrumentalen Reflektion improvisatorisch angedeutet werden. Im Zentrum steht die in zahlreichen Manuskripten überlieferte St. Gallener Melodie Adducentur, die ebenso unter mehreren anderen Namen bekannt war, u.a. auch als Gaude coelestis sponsa (»Freue dich, Braut des Himmels«).

Das Manuskript des »Freisinger Petrusliedes« Unsar trohtin hat farsalt, in dem auf jede Kurzstrophe ein Kyrie eleison-Refrain folgt, ist durchgehend neumiert, was eine annähernd genaue Transkription möglich macht. Vieles spricht dafür, dass Teile der archaischen Melodie über Jahrhunderte hinweg zum spätmittelalterlichen Pfingstlied »Nun bitten wir den heiligen Geist« umgewandelt wurden.

Die Weise Occidentana taucht in zahlreichen Liederhandschriften auf und ist alternativ auch unter dem Namen Cithara bekannt. Der Ursprung und genaue Sinn der oft sehr illustrierenden, bisweilen auch Instrumente bezeichnenden Namen für die untextierten Sequenzmelodien wird für alle Zeiten im Dunkeln bleiben müssen und die Phantasie anregen; in den später hinzugefügten Sequenztexten tauchen sie meist nicht mehr auf. Der berühmten Melodie zu Ehren wird Occidentana auf der Kopie einer frühmittelalterlichen Flöte vorgetragen, gefertigt aus der Ulna eines Schwans.

Mit Scalam ad caelos rekonstruieren wir ein Stück, so wie es als instrumentale Überlieferung einer alten fränkischen Melodie von Spielleuten wiedergegeben worden sein könnte. Es ist uns als Sequenz Notkers erhalten geblieben. Wir wissen um die starke Wirkung, die diese Melodie innerhalb und außerhalb der Kirche über die Jahrhunderte besaß.

Benjamin Bagby/Norbert Rodenkirchen

Texte

Die Texte in neuhochdeutscher Übersetzung finden sie auf einer separaten Seite.

Mitwirkende

Sequentia

Benjamin Bagby - Gesang, Harfe, Leier
Norbert Rodenkirchen - Flöten, Leier

Benjamin Bagby und Norbert Rodenkirchen benutzen germanische Leiern (basierend auf Instrumenten des 7. Jahrhunderts aus Oberflacht in der Nähe von Stuttgart), eine frühmittelalterliche trapezförmige Harfe sowie Kopien von mittelalterlichen Traversflöten (u.a. von einer Schwanenknochenflöte aus der Zeit vor dem 11. Jahrhundert, gefunden in der Nähe von Speyer).