Saison 2008/2009: Konzert 2

Sonntag, 19. Oktober 2008 17 Uhr Deutschlandfunk, Kammermusiksaal

Dies wunderbarste Rätsel aller Zeiten

Werke von Giovanni Pierluigi da Palestrina bis Georg Philipp Telemann Flautando Köln Flautando Köln Sendung im Deutschlandfunk am 28.10.2008

Virtuos vom »Garklein« bis zum »Subbass«: Souverän nutzt Flautando Köln die ganze Bandbreite des Blockflöteninstrumentariums und bezaubert sein Publikum immer wieder im vierstimmigen Consort mit Originalkompositionen und eigenen Bearbeitungen nach historischen Vorbildern. Diesmal begeben sich die Musikerinnen in Johann Sebastian Bachs verwinkelte Notenbibliothek, genauer gesagt: in deren Raritäten-Abteilung. Dort hat der Thomaskantor zur eigenen Unterhaltung und Inspiration Konzertantes und Kontrapunktisches aus der Feder seiner Zeitgenossen und Vorgänger zusammengetragen.

Programmfolge

Johann Sebastian Bach (1685-1750)
Fantasie & Fuge c-Moll BWV 537

Johann Jacob Froberger (1616-1667)
Ricercar FbWV 408
Capriccio FbWV 506

Dietrich Buxtehude (1637-1707)
Ciacona e-Moll BuxWV 160

Johann Sebastian Bach
Contrapunctus I & IX aus
Die Kunst der Fuge BWV 1080

Antonio Vivaldi (1678 - 1741)
Concerto C-Dur RV 444
Allegro - Largo - Allegro molto

Pause

Johann Sebastian Bach
Toccata d-Moll BWV 538
Contrapunctus IV aus
Die Kunst der Fuge BWV 1080

Georg Philipp Telemann (1681-1767)
Sonate a-Moll TWV 42:a4
Largo - Vivace - Affettuoso - Allegro

Giovanni Pierluigi da Palestrina (1525-1594)
Motette »Sicut cervus desiderat« a 4

Antonio Vivaldi / Johann Sebastian Bach
Concerto d-Moll RV 565 / BWV 596
Allegro - Grave - Fuga - Largo - Allegro

Dies wunderbarste Rätsel aller Zeiten

Die Kunst des Johann Sebastian Bach hat Generationen von Musikliebhabern und -experten angesichts ihrer Größe und Universalität immer wieder in Erstaunen versetzt. So auch Richard Wagner, auf dessen Bemerkung gegenüber dem Bayern-König Ludwig II. das Motto des heutigen Konzertes zurückgeht. Von der »fast unerklärlich räthselhaften Erscheinung des musikalischen Wundermannes Seb. Bach« spricht Wagner, »äusserlich das ganze Abbild seiner Zeit, trocken, steif, pedantisch, wie Perücke und Zopf in Noten dargestellt: Und nun sehe man, welche Welt der unbegreiflich grosse Sebastian aus diesen Elementen aufbaute!« Wer Bachs musikalisches Umfeld näher betrachtet, wird dieses Rätsel zwar nicht gänzlich ergründen, seiner Lösung aber näher kommen. Denn auch Bachs Kunst speist sich aus den musikalischen Eindrücken, die er zeitlebens empfing und mit denen er sich produktiv auseinandersetzte. Etwa, indem er nach einer von alters her üblichen Lernmethode lohnende Vorbilder abschrieb und dann bearbeitete, um sie den aktuellen Aufführungsmöglichkeiten oder -bedürfnissen anzupassen: Er reduzierte und ergänzte, korrigierte und modernisierte. Autonom waren die Kompositionen für ihn in erster Linie als Manifestation einer künstlerischen Idee, die sich je nach Gelegenheit klanglich durchaus individuell äußern konnte.

Einiges aus Bach Notenbibliothek hat sich bis heute erhalten, vieles ist verschollen, aber durch Hinweise in Dokumenten oder im Werk rekonstruierbar. In dieser halb realen, halb virtuellen Bibliothek hat sich das Ensemble Flautando Köln umgesehen, um den hypothetischen Auftritt eines Blockflötenquartetts zu Bachs Zeit - etwa während seiner Konzertmeisterjahre am herzoglichen Hof in Weimar um 1715 - akustisch Wirklichkeit werden zu lassen.

Eine wahre musikalische Fundgrube bildete damals die Hofbibliothek der kleinen thüringischen Residenzstadt. Nicht umsonst wird sie 1732 vom unermüdlich forschenden Weimarer Stadtorganisten Johann Gottfried Walther im Vorwort seines Musicalischen Lexicons als wesentliche Informationsquelle hervorgehoben. In dieser Bibliothek wie auch im kollegialen Austausch mit Walther, mit dem er entfernt verwandt war, mag Bach an so manche Kopiervorlage gelangt sein. Damit ließ sich zunächst einmal das eigene Repertoire fürs Tasteninstrument ergänzen - in erster Linie war er in Weimar seit 1708 nämlich als Hoforganist und -cembalist gefragt. Im Vordergrund standen dabei experimentierfreudige Werke wie die des einstigen kaiserlichen Tastenvirtuosen Johann Jacob Froberger, der sich in seinen Ricercar-Kompositionen kontrapunktisch komprimiert ausdrückt und in seinen Capricci bald spielfreudig-humorvoll, bald melancholisch-ernst. Bach, der nach einer Legende schon in Kindertagen heimlich Froberger-Werke aus einem Notenband seines ältesten Bruders Johann Christoph kopierte, hat diese beiden Satzarten in einer Reihe von eigenen Kompositionen übernommen, oft in Paaren, in denen der strenger geformten Fuge eine virtuose Toccata (wie jene BWV 538), ein Aufmerksamkeit heischendes Präludium oder auch eine versonnene Fantasie (wie die in BWV 537) vorausgeht.

Ein norddeutsches Pendant zu Froberger hatte Bach in Dietrich Buxtehude ausgemacht, den er als junger Arnstädter Organist 1705 in Lübeck aufsuchte. Von dort dürfte er dem Bruder Johann Christoph die Ciacona BuxWV 160 mitgebracht haben; sie ist heute einzig in dessen Abschrift erhalten. Das Werk führt auf souveräne Weise vielfältige Variationsmöglichkeiten vor, die sich nach einem alten Tanzschema aus den Harmoniefolgen über einer grundsätzlich gleichbleibenden Bass-Linie gewinnen lassen - ein ewig junges musikalisches Prinzip.

Mit dem Werk des legendären römischen Kirchenmusikers Giovanni Pierluigi da Palestrina aus dem 16. Jahrhundert machte Bach vermutlich durch die Vermittlung Walthers in Weimar Bekanntschaft. Eine intensive Auseinandersetzung mit Palestrinas klarer vokaler Satztechnik, wie sie im Konzert die Instrumentalfassung des Psalms 41 widerspiegelt, wird aber so richtig erst in Bachs eigenem großen kontrapunktischen Vermächtnis greifbar, das seit den 1730er Jahren in Leipzig langsam Gestalt annahm: die Kunst der Fuge, deren 14 als »Contrapunctus« bezeichnete Fugensätze alle auf einem lapidaren Thema und dessen Ableitungen basieren.

Im Sommer 1713 hielt der moderne italienische Stil gleich kistenweise in Weimar Einzug, in Warensendungen, die der junge Prinz Johann Ernst während eines Studienaufenthaltes in Utrecht veranlasst hatte. Die tonangebenden Musikdrucke unter seinen Einkäufen bildeten Solokonzerte des Venezianers Antonio Vivaldi, die nach der Rückkehr des Prinzen dann auf der Agenda Bachs und auch Walthers standen: Sie hatten davon Clavier-Transkriptionen anzufertigen und entledigten sich der Aufgabe mit Bravour. Flautando Köln stellt das C-Dur-Concerto RV 444 nun in einer Bearbeitung des Kollegen Bertho Driever vom Amsterdam Loeki Stardust Quartet vor, der die ursprüngliche Fassung für Flöte und Streicher auf das Blockflötenconsort übertragen hat. Der Interpretation des abschließenden d-Moll-Konzerts liegen gleich zwei Quellen zugrunde: Vivaldis Original für zwei Violinen, Violoncello, Streicher und Basso continuo aus dem Opus III von 1712 und Bachs kongeniale Weimarer Orgel-Version.

Der Hof in Eisenach, der Geburtsstadt Bachs, die von Weimar aus eine gute Tagesreise entfernt lag, ließ sich derweil durch seinen ehemaligen Kapellmeister Georg Philipp Telemann mit Musikalien versorgen, der inzwischen als Kantor in Frankfurt am Main wirkte. Seine Triosonate a-Moll, komponiert für Blockflöte, Violine und Basso continuo, erschien erst 1728 im Druck, zu einer Zeit, da sich Telemann als Musikdirektor in Hamburg etabliert hatte. Seine Künstlerfreundschaft mit Bach, die auch dazu führte, dass Telemann 1714 das Patenamt bei dessen Zweitältestem Carl Philipp Emanuel übernahm, gründete in gemeinsamen Thüringer Tagen und sollte jahrzehntelang halten, wie noch Telemanns Nachruf von 1751 bezeugt: »Erblichner Bach! Dir hat allein dein Orgelschlagen / das edle Vorzugs-Wort des Großen längst gebracht; / und was für Kunst dein Kiel aufs Notenblatt getragen, / das wird von Meistern selbst nicht ohne Neid betracht't. / So schlaf! Dein Name bleibt vom Untergange frey…«

behe

Mitwirkende

Flautando Köln
Katharina Hess
Susanne Hochscheid
Ursula Thelen
Kerstin de Witt - Blockflöten