Saison 2008/2009: Konzert 5

Sonntag, 1. Februar 2009 17 Uhr Deutschlandfunk, Kammermusiksaal

Crème Bavaroise

Europäische Musik am bayerischen Hof von Georg Muffat, Johann Christoph Pez, Johann Caspar Kerll, Evaristo Felice Dall'Abaco, Johann Pachelbel und Rupert Ignaz Mayr Stylus Phantasticus Ltg. Friederike Heumann Stylus Phantasticus Sendung im Deutschlandfunk 17.2.2009

Anfang der 1680er Jahre reiste der Salzburger Hoforganist Georg Muffat nach Rom, um die jüngsten Fortschritte instrumentalen Komponierens aus erster Hand kennenzulernen. Zuvor hatte er sich schon in Paris mit der »Lullianischen Ballet-Arth« vertraut gemacht. Fortan mischte er in seinen Kompositionen erfolgreich Französisches und Italienisches. Wie gut das in Deutschland ankam, zeigt die Notensammlung des bayerischen Kurfürsten Max Emanuel II. Eine Auswahl daraus hat Friederike Heumann zusammengestellt, die ihr Streicherensemble Stylus Phantasticus von jenem Instrument aus leitet, das einst auch der kunstsinnige bayerische Kurfürst spielte: die Gambe.

Programmfolge

Georg Muffat (1653-1704)
Nobilis Juventus - Adeliche Jugend
für 2 Violinen, Viola da gamba und Basso continuo
aus Florilegium secundum (Passau 1698)

Oeffnung deß Theatri, Vorspiel oder Eingang - Intrada von Spaniern - Air für Holländer - Giga für Engelländer - Gavotta für Welsche - Für Frantzosen erste Menuet - Anderte Menuet - Menuet I da capo

Johann Christoph Pez (1664-1716)
Sonata ottava in g
für 2 Violinen, Viola da gamba und Basso continuo
aus Duplex genius sive Gallo-Italus Instrumentorum Concentus (Augsburg 1696)

Adagio - Presto - Adagio - Fuga: Allegro - (Dolce) - Presto

Johann Caspar Kerll (1627-1693)
Sonata a 3 g-Moll
für 2 Violinen, Viola da gamba und Basso continuo
Adagio - Allegro - Allegro - (ohne Bezeichnung)

Evaristo Felice Dall'Abaco (1675-1742)
Concerto a quattro da chiesa op. 2,1 d-Moll
für 2 Violinen, Viola da gamba und Basso continuo
(Amsterdam, ca. 1712)

Largo - Allegro - Andante - Allegro assai

Pause

Johann Pachelbel (1653-1706)
Partia II c-Moll
für 2 Violinen in Skordatur und Basso continuo
Musicalische Ergötzung (Nürnberg, ca. 1700)

Sonata - Gavotte - Treza - Aria - Saraband - Gigue

Johann Christoph Pez
Sonata decima seconda in e
für 2 Violinen, Viola da gamba und Basso continuo
aus Duplex genius sive Gallo-Italus Instrumentorum Concentus (Augsburg 1696)

Adagio - Presto - Adagio - Presto - Adagio/Fuga: Allegro - Dolce - Allegro

Evaristo Felice Dall'Abaco
Concerto a quattro da chiesa op. 2,5 g-Moll
für 2 Violinen, Viola da gamba und Basso continuo
(Amsterdam, ca. 1712)

Largo - Allegro e Spiritoso - Grave - Allegro

Georg Muffat
Sollicitudo
für 2 Violinen, Viola da gamba und Basso continuo
aus Suavis harmoniae instrumentalis hyperchematicae florilegium primum (Augsburg 1695)

Ouverture - Allemande - Air - Gavotte - Menuett I - Menuett II - Menuett I da capo -Bourrée

Die Harmonie der Nationen

»Die Kriegerische Waffen und ihre Ursachen seyn ferne von mir; Die Noten, die Seiten, die liebliche Music-Thonen geben mir meine Verrichtungen, und da ich die Französische Art der Teutschen und Welschen einmenge, keinen Krieg anstiffte, sondern vielleicht derer Völker erwünschter Zusammenstimmung, dem lieben Frieden etwann vorspiele.«

Mit diesen Worten reflektiert Georg Muffat im mehrsprachigen Vorwort seines ersten »Blumenbundes« für fünf Streicher (Florilegium primum, Augsburg 1695) die prekäre politische Lage seiner Zeit. Das Gleichgewicht der Mächte, das mit dem Westfälischen Frieden erzielt worden war, geriet damals durch die Eroberungsfeldzüge Ludwigs XIV. gehörig unter Druck. Kaum ein anderer Musiker war wie Muffat prädestiniert, die kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen den europäischen Nationen jener Zeit zu bedauern, denn er hatte drei musikalische Kulturen von innen heraus studiert - die französische, die italienische und die weniger scharf abgrenzbare »deutsche«. Sein Lebensweg spiegelt diese gesamteuropäische Perspektive auf eindrückliche Weise: geboren 1653 in Savoyen, aufgewachsen im Elsass, 1663-69 musikalisch ausgebildet in Paris im Dunstkreis von Jean-Baptiste Lully, 1674 Student der Rechte in Ingolstadt, ab 1678 Hoforganist in Salzburg und unmittelbarer Kollege von Heinrich Ignaz Franz Biber, 1681-82 Studienaufenthalt in Rom im Umfeld Bernardo Pasquinis und Arcangelo Corellis und schließlich ab 1694 fürstbischöflicher Hofkapellmeister in Passau.

Ist Muffat gewissermaßen der musikalische Patron des heutigen Programms, so wird es auf der historischen Ebene durch die Person des »Blauen Kurfürsten« Maximilian II. Emanuel von Bayern (1662-1726, Regierungsantritt 1680) verknüpft. Übersteigerte politische Ambitionen trieben diesen Schwiegersohn Kaiser Leopolds I. in eine verhängnisvolle politische Allianz mit Ludwig XIV. und machten ihn zu einem Hauptverantwortlichen für den Spanischen Erbfolgekrieg (1701-1714). Als Folge dieser Schaukelpolitik verbrachte er lange Phasen seiner Regierungszeit außerhalb seines Landes. 1691 wurde er habsburgischer Statthalter der spanischen Niederlande in Brüssel. 1701 wechselte er von München aus politisch auf die Seite Ludwigs XIV; 1704 in der Schlacht bei Höchstädt von den alliierten Truppen um den Herzog von Marlborough und Prinz Eugen vernichtend geschlagen, verfiel er 1706 der Reichsacht und zog zunächst nach Mons, ab 1709 an den französischen Hof ins Exil. Erst 1715 kehrte Max Emanuel in das heruntergewirtschaftete Bayern zurück.

Seine Hofkapelle war wie viele andere des deutschsprachigen Raums zunächst von italienischen Musikern dominiert; als Kapellmeister diente seit 1674 Ercole Bernabei. Zu den jungen Hofkapellmitgliedern gehörte der begabte, aus München stammende Johann Christoph Pez, der später Max Emanuels Bruder Joseph Clemens, Kurfürst von Köln und Erzbischof von Lüttich, dienen sollte und schließlich zum Hofkapellmeister in Stuttgart aufstieg. Der Cellist Evaristo Felice Dall'Abaco stieß 1704 zur Hofkapelle. Im gleichen Jahr starb Georg Muffat, der - soweit bekannt - niemals in direkter Verbindung zu Max Emanuel stand, während der Besetzung Passaus durch bayerische Truppen im Zuge der Auseinandersetzungen im Spanischen Erbfolgekrieg. Die Aufregung mag Muffats Tod beschleunigt, wenn nicht herbeigeführt haben - das wäre eine zumindest indirekte Folge der Politik Max Emanuels.
Man kann dem Kurfürsten vieles vorwerfen: Er war ein waghalsiger Heerführer, ein politischer Hasardeur der Extraklasse, ein Frauenheld, ein Genussmensch, ein Verschwender und Spieler. Aber er war auch ein Mann der Künste! Mit der Musik verband ihn die Ausbildung durch Johann Caspar Kerll und den französischen Flötisten, Zinkenisten und Ballettkomponisten Melchior d'Ardespin. Seine Leidenschaft als Gambenspieler ging so weit, dass er sich sein Instrument sogar bei Jagdausflügen des Hofes nachtragen ließ, ja nicht einmal im Türkenkrieg wollte er sich davon trennen. Am französischen Hof ist er zudem als guter Sänger aufgefallen, und gelegentlich mischte er sich wohl auch in Opernproben ein. Die Musik war ihm offenbar ein persönliches Anliegen, weit über den repräsentativen Charakter hinaus, den sie in jeder ambitionierten Hofhaltung des Absolutismus hatte.

Der Wechsel seiner Residenzen blieb nicht ohne Folgen für die Hofkapelle, die Max Emanuel in Teilen in die Niederlande und nach Frankreich folgte. Mit Suitenkompositionen wie denen aus Johann Christoph Pez' hier vorgestellter Sammlung von 1696 sind frühe Beispiele der Rezeption französischer Orchesterpraxis in München zu finden, in unmittelbarer zeitlicher Nachbarschaft zu den ungleich berühmteren Drucken von Georg Muffat. Diese aber stellen durch ihre ausführlichen Vorworte den eindrucksvollsten Beleg für die Verbreitung französischer Ballettkompositionen und ihrer Aufführungspraxis im deutschsprachigen Raum dar. Muffat entwirft mit seiner Suite Nobilis Juventus (datiert 1691) eine Zukunft, in der die adelige europäische Jugend zumindest musikalisch-tänzerisch vereint ist. Die Suite Sollicitudo (»Unruhe«) seines ersten Suiten-Druckes (die Kompositionen entstanden vor 1690 in Salzburg) offenbart ihr Programm nicht explizit.

Johann Christoph Pez kam 1687 als begabter Spross einer Münchner Türmer-Familie in die Hofkapelle und machte dort rasch Karriere. 1689-92 ermöglichte der Kurfürst ihm einen Studienaufenthalt in Rom. Der Druck des Duplex Genius sive Gallo-Italus Instrumentorum Concentus von 1696 dürfte ein direktes Ergebnis dieser Studien sein. Anders als Muffat folgt Pez hier einer italienischen Traditionslinie. Der ausgewogene Wechsel zwischen konzertierenden und kontrapunktisch ausgefeilten Passagen ist kennzeichnend für die »deutsche« Spielart der Ensemblesonate: Pez zeigt alle Mittel der kontrapunktischen »Kompositionswissenschaft«, ohne die sinnlichen Momente dabei aus dem Auge zu verlieren. Die »gallischen« Elemente sind weniger deutlich ausgeprägt; bezeichnend ist aber, dass Pez die Vereinigung der beiden musikalischen Welten - italienisch-französisch - im Titel seines Druckes zum Programm macht. Im Umfeld des bayerischen Hofes schien dies angebracht zu sein.

Evaristo Felice Dall'Abaco stammte aus Verona und erhielt seine musikalische Ausbildung in Modena und Bologna, Städten, die um 1700 besonders für ihre fortschrittliche Instrumentalmusik bekannt sind. Er brachte als Cellist ein vergleichsweise modernes Instrument nach München. Offenbar suchte Max Emanuel trotz seiner Vorlieben für die Gambe auch den Anschluss an die neuesten Entwicklungen aus Italien. Andererseits lernte Dall'Abaco mit Max Emanuel auch die französische Musikkultur gründlich kennen. Die seinem Dienstherrn gewidmeten Concerti a quatro da chiesa op. 2 erschienen um 1712 in prächtigem Kupferstich in Amsterdam. Sie folgen dem Schema, das Corelli in Italien bereits seit den 1680er Jahren etabliert hatte. Dall'Abacos Werke bestechen durch die kompositorische Seriosität und Ausgewogenheit der einzelnen Stimmen sowie durch die elegante Flüssigkeit der Bewegung. Musik auf der Höhe ihrer Zeit!

Während Muffat, Pez und Dall'Abaco gewissermaßen die tonangebende internationale Musik um 1700 repräsentieren, verweisen die Kompositionen im Zentrum des heutigen Konzerts auf eine stilistisch andere Schicht, obwohl sie in denselben Zeitraum fallen. Johann Pachelbel, im gleichen Jahr wie Muffat geboren, wirkte in der freien Reichsstadt Nürnberg als berühmter Organist. Seine Parthien (Suiten) für zwei skordierte Violinen (umgestimmt nach c'-g'-c''-f''), im Eigenverlag um 1700 in Nürnberg herausgegeben, reflektieren in Klanglichkeit und Stil eine weitere Spielart der tanzbezogenen süddeutschen Ensemblekomposition. Johann Caspar Kerll schließlich verkörpert die von Italien geprägte Musikkultur des Münchner Hofes. Die undatierte, nur handschriftlich überlieferte Sonata à 3 ist eine der wenigen erhaltenen Kammermusiken des Meisters. Kerll war seit 1656 Hofkapellmeister unter Max Emanuels Vater Ferdinand Maria. Er erhielt seine Ausbildung in Wien und Rom und diente als junger Musiker den Habsburgern in Brüssel, bevor er nach München kam. Kerll schreibt einen kontrapunktisch dichten Satz für vier Stimmen, in dem aber auch konzertierende und tänzerische Elemente ihren Platz finden. Die Gamben-Stimme erhält darin herausgehobene Aufgaben. Könnte sie für den jungen Kurfürsten gedacht sein?

Viel mehr als mit militärischen Mitteln haben die barocken Potentaten durch die Förderung der Kunst eine Verständigung zwischen den »Nationen« erreicht. Die Kompositionen wecken bis heute unser sinnliches Interesse, während die kriegerischen Auseinandersetzungen nur noch als abstrakte historische Erinnerungen fortbestehen. So erscheint die transitorische Flüchtigkeit der Musik letztlich wirkungsmächtiger als die große Politik des absolutistischen Zeitalters. Muffats friedliche musikalische »Euro-Vision« hat sich letztlich als Modell der Zukunft erwiesen.

Thomas Drescher

Mitwirkende

Stylus Phantasticus
Ltg. Friederike Heumann

Stylus Phantasticus spielt heute in folgender Besetzung:
Pablo Valetti, Nicholas Robinson - Violine
Friederike Heumann - Viola da gamba
Eduardo Egüez - Laute, Gitarre
Dirk Börner - Cembalo, Orgel
Dane Roberts - Violone