Saison 2009/2010: Konzert 4

Sonntag, 13. Dezember 2009 17 Uhr Deutschlandfunk, Kammermusiksaal

Der Gral, der Ritter und der Dichter

Musikalische Reflektionen über die Geschichte von Parzival Sequentia Benjamin Bagby - Gesang, Harfe Katarina Livljanic - Gesang Norbert Rodenkirchen - Flöte, Harfe Elizabeth Gaver - Fidel Benjamin Bagby Sendung im Deutschlandfunk am 19.1.2010

Die bewegende Geschichte vom Ritter Parzival und dem Heiligen Gral ist tief in den Kulturen des mittelalterlichen Europas verwurzelt. Sie wurde von Generation zu Generation weitererzählt, bis sie im späten 12. Jahrhundert in Verse gekleidet wurde. Chrétien de Troyes, ein Dichter am Hof der Marie de Champagne, begründete eine literarische Tradition, die mit Wolfram von Eschenbach im deutschen Sprachraum ihren prominentesten Sachwalter fand. Benjamin Bagby präsentiert mit Sequentia in unnachahmlich eindrucksvoller Darstellungsweise Schlüsselszenen aus den Schöpfungen der beiden mittelalterlichen Sängerdichter in Rezitation und Gesang.

Programmfolge

Wolfram von Eschenbach (ca. 1170-1220)
Vrou Herzeloyd diu rîche
Szene aus Parzival (ca. 1210)

Instrumentalstück Der Ritter

Chrétien de Troyes (spätes 12. Jahrhundert)
Lors vit devant lui en un val
Szene aus Perceval (ca. 1190)

Rigaud de Berbezilh (spätes 12. Jahrhundert)
Atressi con Persevaus
Troubadour-Canso

Instrumentalstück Kievrefuel

Wolfram von Eschenbach
Alrêrst nu âventiurt ez sich!
Szene aus Parzival

Albrecht von Scharfenberg (spätes 13. Jahrhundert)
Mit iamer ûf den toten
Szene aus Jüngerer Titurel (ca. 1270)

Chrétien de Troyes
Lasse! fait el, malaüreuse
Szene aus Parzival

Instrumentalstück Künec Artûs

Wolfram von Eschenbach
Welt ir nu hoeren war sî komn Parzivâl der Wâleis?
Szene aus Parzival

Gace Brulé (ca. 1160-1215)
Chanter m'estuet ireement
Trouvère-Chanson

Anonymus (Regensburg, 13. Jahrhundert)
Dilectus meus candidus et rubicundus
aus dem Hohelied der Liebe

Tannhäuser (spätes 13. Jahrhundert)
Ich lobe ein wîb
Tanzleich

Pdf-Download: Gesangstexte und Übersetzungen

Musikalische Reflexionen über Parzival

Die bewegende Geschichte vom Ritter und vom Gral hat ihre Wurzeln wahrscheinlich in den Kulturen des mittelalterlichen Europas. Sie lebte in der mündlichen Tradition fort, bis man sie im späten 12. Jahrhundert in Versen niederschrieb, als die Geschichte vom naiven Jungen Parzival. In seinem Bestreben, ein Ritter zu werden, gelangt er an den Hof des leidenden Fischerkönigs. Dort wird er Augenzeuge einer stillen Prozession mit einer prachtvollen Schale, die Gral genannt wird, und einer blutenden Lanze. Er versäumt aber danach zu fragen, was das bedeutet. Diese Schlüsselszene, in der die Sinnfrage nicht gestellt wird, wurde zuerst von Chrétien de Troyes in französische Verse gefasst. Er schrieb am vornehmen Hof der Marie de Champagne und begründete damit eine literarische Tradition von Bearbeitungen und Fortsetzungen, unter denen diejenige des deutschen Dichters Wolfram von Eschenbach die bekannteste ist. Die Erzähltradition erstreckt sich vom Mittelalter bis in unsere Zeit. Die wesentlichen Bilder der Geschichte finden das ganze 13. Jahrhundert hindurch ihren Nachhall in Dichtung und Gesang: das Leid der Frauen in einer Gesellschaft von Kriegern (der Tod von Parzivals verstoßener Mutter Herzeloyde und die Klage der Sigune, der Geliebten eines toten Ritters); der Gral, die blutende Lanze und die ungestellte Frage; schließlich Parzivals Meditation über das Antlitz seiner Geliebten, zu dem er durch drei in den frischen Schnee gefallene Blutstropfen veranlasst wird.

In Formen der Rezitation und des Gesangs stellt unser Programm Schlüsselszenen von Chrétien de Troyes' Roman Perceval ou le conte du Graal und der wenig später entstandenen deutschen Nacherzählung der Geschichte in Wolfram von Eschenbachs Parzival vor. Dazwischen erklingt Sologesang und Instrumentalmusik aus derselben Epoche. Die begleitenden Lieder in mittelalterlichem Französisch, Deutsch, Latein und Okzitanisch erweitern und reflektieren die Themen der Geschichte.

Wir beginnen mit der berühmten Szene aus Wolframs Parzival, Vrou Herzeloyd diu rîche. Der ahnungslose junge Parzival, den seine Mutter von Rittertum und Kampf ferngehalten hat, trifft im Wald auf vier bewaffnete Ritter. Er denkt, dass sie Götter sind, er fragt, was er tun muss um wie sie zu werden, und erfährt, dass er König Artus aufsuchen soll. Die Mutter des Jungen, Herzeloyde, die schon ihren Mann und zwei ihrer Söhne durch kriegerische Auseinandersetzungen verloren hat, will Parzival vor jedem Kontakt zum Rittertum bewahren. Doch nun ist er entschlossen, seinem Verlangen nachzugeben, und verlässt seine Mutter. Sie stirbt an gebrochenem Herzen.

Die Instrumentalmusik unseres Konzerts haben wir unter Verwendung deutscher und französischer Formeln modaler Modelle der damaligen Zeit rekonstruiert. In den Stücken Der Ritter, Kievrefuel und Künec Artûs hören wir Klänge von gestrichenen Saiten (Fidel), gezupften Saiten (Harfe) und von Bläsern (Flöten), wie sie den Spielleuten des späten 12. Jahrhunderts vertraut waren.

In Lors vit devant lui en un val, der zentralen Szene aus Perceval, schildert Chrétien die Begegnung des jungen Parzival mit dem geheimnisvollen Gral und der blutenden Lanze, die in einer feierlichen Prozession an dem jungen Krieger vorbeigetragen werden, als er auf der Suche nach König Artus in der Burg des leidenden Fischerkönigs Aufnahme findet. Da er es für unhöflich hält, seinen Gast darauf anzusprechen, lässt Parzival die Gelegenheit verstreichen, ihm die Frage nach der Bewandtnis der Prozession zu stellen - eine einfache Frage, die den König von seinem Leiden erlösen könnte. Parzival wird in den kommenden Jahren noch oft bedauern, dass sich der Abend auf höfliche Konversation, köstliches Essen und Trinken beschränkt, das davon unterbrochen wird, dass Gral und Lanze noch einmal vorbeiziehen.

Im folgenden Canso Atressi con Persevaus spielt der Troubadour Rigaud de Berbezilh auf diese berühmte Szene an. Doch nun ist es der Liebende, der versunken in Gedanken an die Schönheit seiner Angebeteten versäumt zu sprechen. Dieser Gesang enthält die erste datierbare Erwähnung des Grals und der Lanze und beweist damit, dass die Geschichte schon in der mündichen Tradition verankert war, bevor Chrétiens meisterhafte Nachherzählung um etwa 1190 entstand.

In der Szene Alrêrst nu âventiurt ez sich, die Wolframs Fassung der Geschichte bietet, hat Parzival das Schloss des Fischerkönigs verlassen. Er trifft im Wald auf eine schöne junge Dame, die in einer Linde sitzt und den Körper eines toten Ritters wiegt. Sie singt die Totenklage Mit iamer ûf den toten für ihren Geliebten, Tschinotulander. Diese Klage des Mädchens Sigune findet sich in Albrecht von Scharfenbergs Epos Jüngerer Titurel, einer von vielen »Fortsetzungen« der Parzival-Geschichte, die in Frankreich und Deutschland überliefert sind. Bei der Gesangsweise, die in dem betreffenden Manuskript von späterer Hand ergänzt ist, handelt es sich um die einzige bekannte Melodienotation für solch eine Romanze (die übrigen gesungenen Szenen stellen Rekonstruktionen dar).

Als Sigune in Chrétiens Lasse! fait el, malaüreuse ihre Klage beendet hat, beginnen Parzival und sie ein Gespräch. Dabei erkundigt sie sich genau nach dem Abend mit dem Fischerkönig. Im Laufe ihres Verhörs erfährt sie, dass Parzival nicht nach dem Gral und der Lanze gefragt hat. Sie beschimpft ihn und enthüllt, dass er nicht Parzival der Walliser, sondern Parzival der Elende heiße und dass sie in Wirklichkeit seine Cousine sei. Sie sagt ihm voraus, dass Unglück über ihn und andere kommen werde.

In einer weiteren wichtigen Szene der Geschichte, Welt ir nu hoeren war sî komn Parzivâl der Wâleis, reitet Parzival alleine durch den Wald. Nachdem er eine Nacht in einem Schneesturm durchstanden hat, sieht er am Morgen, wie ein verirrter Falke mehrere Wildgänse angreift. Dabei fallen drei Blutstropfen in den frischen Schnee. Als Parzival diese Blutstropfen betrachtet, fällt er in Trance und erkennt das Gesicht seiner geliebten Cundwîrâmûrs (conduire amours): gerötete Wangen und einen kirschroten Mund in einem weißen Antlitz.

Gesicht und Körper der Geliebten, ausgedrückt durch die erotische Kraft der Farben rot und weiß, das ist ein häufig verwendetes Symbol in der Liebeslyrik. Einer der aus der Champagne stammenden Trouvères, Gace Brulé, der Chrétien am Hof der Marie de Champagne kennengelernt haben könnte, verwendet es in Chansons wie Chanter m'estuet ireement. In Deutschland stößt man sogar im geistlichen Bereich auf die Tradition, ausgesprochen erotische Texte aus dem Hohelied der Liebe zu singen, wie etwa Dilectus meus candidus et rubicundus, der in einem Manuskript aus dem Regensburger Dom überliefert ist. Parzivals Traumgesicht im Schnee ist der ultimative Ausdruck eines ritterlichen Ideals von Liebesdienst und Verehrung - in der lateinischen Fassung von König Salomos großartigem Gesang über das körperliche Begehren findet er sein geistliches Spiegelbild.

Auf einer eher weltlichen Ebene erlangte die Geschichte von Parzival, die populär geworden war und sich bis zum Ende des 13. Jahrhunderts über ganz Europa verbreitet hatte, den Rang aller großen Romane. Der deutsche Dichter Tannhäuser vereinigt in dem unbeschwerten Tanzleich Ich lobe ein wîb Parzival, Blanchiflur, Gawan und andere Charaktere der Artussage in einem umfangreichen Verzeichnis aller großen Liebhaber der Geschichte, er lässt sie mit Venus, Helena, Dido und Isolde tanzen und als Höhepunkt mit seiner eigenen Geliebten (deren Namen er nicht nennt). Bemerkenswerterweise ist die Melodie dieses Leichs im gleichen Manuskript zu finden wie das zuvor zu hörende Hohelied.

Von seinen Anfängen in der mündlichen Tradition hat Parzival eine lange Reise unternommen, die ihn in die Skriptorien Chrétiens, Wolframs und ihrer vielen Nachfolger führte, bis er sich schließlich auf einem bayerischen Tanzboden wiederfindet. 600 Jahre später wird sein Name nicht weit entfernt davon wieder in aller Munde sein - auf der Opernbühne von Bayreuth.

Benjamin Bagby, Übersetzung: behe

Quellennachweis

Mit Dank an Professor Richard Trachsler für seine Beratung bei der Aussprache des Altfranzösischen.

Die Texte der Romanzen sind den Editionen von Chalres Méla (Perceval), Karl Lachmann (Parzival) und Kurt Nyhom (Jüngerer Titurel) entnommen.

Rekonstruktion der Gesangsstücke durch Benjamin Bagby und Katarina Livljanic, der instrumentalen Stücke durch Benjamin Bagby, Norbert Rodenkirchen und Elizabeth Gaver.

Melodie »Atressi con Persevaus«: Paris, Bibliotheque Nationale de France f. fr. 20050, fol. 85; Textedition: Martín de Riquer

Melodie und Text »Mit iamer ûf den toten«: Wien, Nationalbibl. Hs. 2675, fol. 1v.

Melodie »Chanter m'estuet ireement«: Paris, Bibliotheque Nationale de France f. fr. 845, fol. 87; Textedition: S. N. Rosenberg

Melodie und Text »Dilectus meus candidus et rubicundus«: München, Bayerische Staatsbibliothek, clm 5539, fol. 53v.

Melodie »Ich lobe ein wîb«: München, Bayerische Staatsbibliothek, clm 5539, fol. 161; Textedition: Johannes Siebert

Mitwirkende

Sequentia
Benjamin Bagby - Gesang, Harfe
Katarina Livljanic - Gesang
Norbert Rodenkirchen - Flöte, Harfe
Elizabeth Gaver - Fidel