Saison 2009/2010: Konzert 6

Sonntag, 14. März 2010 Deutschlandfunk, Kammermusiksaal 17 Uhr

Johann Sebastian Bach

»Köthener Trauermusik« BWV 244a Erstaufführung in einer Gesamtrekonstruktion von Alexander Ferdinand Grychtolik Theatre of Voices | Capella Angelica Lautten Compagney Berlin Ltg. Wolfgang Katschner Die Lautten Compagney Berlin Sendung im Deutschlandfunk am 30.3.2010

Am Vormittag des 24. März 1729 erklang in Köthen die Trauermusik für den verstorbenen Landesherren Fürst Leopold. Sein einstiger Kapellmeister hatte sie komponiert, der seit 1723 als Thomaskantor in Leipzig amtierte: Johann Sebastian Bach. Die Komposition schien lange verschollen, doch hat man inzwischen entdeckt, dass ihre Musik zu großen Teilen in der Trauer-Ode auf den Tod der sächsischen Kurfürstin und der Matthäus-Passion überliefert ist. Wolfgang Katschner präsentiert nun eine Rekonstruktion der Köthener Trauermusik. Das verspricht eine Wiederbegegnung mit vielen vertrauten Sätzen aus Bachs großer Passion in einem neuen Kontext.

Programmfolge

Johann Sebastian Bach
Köthener Trauermusik
BWV 244a

Gesamtrekonstruktion von Alexander Ferdinand Grychtolik

1. Abteilung

  1. Chorus: Klagt, Kinder, klagt es aller Welt
  2. Recitativo (Alto): O Land! Bestürztes Land!
  3. Aria (Alto): Weh und Ach
  4. Recitativo (Tenore): Wie, wenn der Blitze Grausamkeit
  5. Aria (Tenore): Zage nur, du treues Land
  6. Recitativo (Soprano): Ah ja! Dein Scheiden geht uns nah
  7. Chorus: Komm wieder, teurer Fürsten-Geist

2. Abteilung

  1. Chorus: Wir haben einen Gott, der da hilft
  2. Recitativo (Alto): Betrübter Anblick, voll Erschrecken
  3. Aria (Alto): Erhalte mich
  4. Recitativo (Soprano): Jedoch der schwache Mensch erzittert nur
  5. Aria (Soprano): Mit Freuden sei die Welt verlassen
  6. Recitativo (Basso): Wohl also dir
  7. Repetatur Dictum (Wiederholung Nr. 8)

Pause

3. Abteilung

  1. 15. Aria (Basso): Lass, Leopold, dich nicht begraben
  2. 16. Recitativo (Alto): Wie könnt es möglich sein
  3. 17. Aria (Alto): Wird auch gleich nach tausend Zähren
  4. 18. Recitativo (Tenore): Und, Herr, das ist die Spezerei
  5. 19. Aria (Tenore/Chorus): Geh, Leopold, zu deiner Ruhe

4. Abteilung

  1. Aria (Basso): Bleibet nur in eurer Ruh
  2. Recitativo (Soprano): Und du, betrübtes Fürstenhaus
  3. Aria (Soprano): Hemme dein gequältes Kränken
  4. Recitativo (Basso): Nun scheiden wir
  5. Chorus: Die Augen sehn nach deiner Leiche

Texte

Die Gesangstexte finden Sie auf einer separaten Seite als Pdf-Datei.

Bach rekonstruierbar

Mit Johann Sebastian Bach zog am 22. Mai 1723 der bisherige Kapellmeister des Fürsten Leopold von Anhalt-Köthen in die Kantorenwohnung der Leipziger Thomasschule ein und mit seiner Gattin Anna Magdalena eine Köthener Hofsopranistin. Das Engagement des Künstlerehepaares in der knapp 80 Kilometer von der Messestadt entfernten Fürstenresidenz Köthen endete aber keineswegs mit Bachs Übernahme des Thomaskantorats: Er führte weiterhin den fürstlichen Kapellmeistertitel, und auch seine Frau gastierte verschiedentlich zu Musikdarbietungen im Köthener Schloss. In den dortigen Kammerrechnungen finden sich für die Zeit zwischen Juli 1724 und März 1729 diverse Belege über Honorar-, Kost- und Logis-Ausgaben, zugedacht »dem Leipziger Cantori Bachen und seiner Ehefrauen, so sich allhier etzliche mahl höhren laßen«. Die letzte Quittung dieser Art wurde am 25. März 1729 ausgestellt, aus Anlass einer Trauermusik Bachs für den vier Monate zuvor verstorbenen Fürsten. Im Gegensatz zum Textdruck ist Bachs Aufführungsmaterial zu dieser Köthener Trauermusik verschollen.

Auch von vielen anderen Partituren und Einzelstimmen der zumeist weltlichen Vokalwerke, die Bach in erster Linie für die Fürstenhäuser in Köthen, in Weißenfels und später in Dresden schrieb, hat sich kaum etwas erhalten. Die Musik lässt sich aber in vielen Fällen annäherungsweise rekonstruieren, denn Bach hat sich diese Kompositionen, die für einmalige Anlässe entstanden waren, oft noch einmal bei anderer Gelegenheit zunutze gemacht. Indem er z.B. der bestehenden weltlichen Musik einen geistlichen Text unterlegte, war sie im Gottesdienst verwendbar, und das prinzipiell in jedem Kirchenjahr aufs Neue. »Parodie« nannte man solch ein Verfahren, auf dem neben mancher Kirchenkantate auch Bachs Oratorien zu Weihnachten, Ostern und Himmelfahrt beruhen. Dabei übernahm Bach üblicherweise nur die Musik zu Chören und Arien aus den weltlichen Werken und ergänzte sie um Choräle und neukomponierte Rezitative.

Durch den Vergleich von Vers- und Reimstrukturen bekannter Kompositionen mit Werken, von denen nur noch der Text - in Form zeitgenössischer Drucke - erhalten geblieben ist, kann man solchen Parodiebeziehungen heute noch auf die Spur kommen. Die Köthener Trauermusik erklang 1729 fast auf den Tag genau drei Wochen, bevor Bach in der Leipziger Karfreitagsvesper seine Matthäus-Passion aufführte (es gibt vereinzelte dokumentarische Hinweise, dass er diese Passion schon 1727 komponiert hatte). Aus dem Jahr 1727 stammt auf jeden Fall eine Odenvertonung Bachs, die im Rahmen eines Traueraktes in der Leipziger Universitätskirche zum Gedenken an die sächsische Kurfürstengattin Christiane Eberhardine erklang. In beiden Kompositionen bedient sich Bach eines vergleichsweise aufwändigen Aufführungsapparates, der neben den chorisch und solistisch eingesetzten Singstimmen, neben Flöten, Oboen, Streichern und Basso continuo auch noch Gamben und Lauten als besonders erlesene, »stille« Soloinstrumente verlangt. Eine ebensolche Besetzung dürfte Bach auch für die Köthener Trauermusik vorgesehen haben. Dass sie darüber hinaus sogar mit ausgewählten Stücken der Matthäus-Passion und der Leipziger Trauer-Ode identisch sein muss, lässt sich anhand vieler frappierender Parallelen in der Textstruktur belegen. Und dass mit Christian Friedrich Henrici alias Picander der Textdichter von Bachs Matthäus-Passion auch das Libretto der Köthener Trauermusik schrieb, deutet auf eine planvolle gemeinsame Parodiearbeit von Dichter und Komponist hin.

behe

Zur Rekonstruktion

Bachs Trauermusik »Klagt, Kinder, klagt es aller Welt« erklang in einem öffentlichen Gedächtnisgottesdienst, der für den vier Monate zuvor mit 34 Jahren verstorbenen Fürsten Leopold von Anhalt-Köthen in der reformierten Stadtkirche St. Jakob zu Köthen abgehalten wurde. Die Musik war somit Teil der offiziellen Trauerfeierlichkeiten für den Landesherrn, der am Abend zuvor beigesetzt worden war. Die Musik gilt heute als verschollen, lediglich das Libretto ist in drei voneinander leicht divergierenden Fassungen erhalten. Die Köthener Trauermusik ist mehr als nur ein markantes Beispiel mitteldeutscher Memorialkultur aus der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts: Durch ihren entstehungsgeschichtlichen Bezug zur Matthäus-Passion kommt ihr eine besondere Stellung innerhalb der Werke Johann Sebastian Bachs zu.

Die Geschehnisse um ihre Aufführung 1729 sind - bei Bach sonst eher ungewöhnlich - relativ gut nachvollziehbar. Zur musikalischen Ausgestaltung der umfangreichen Trauerfeierlichkeiten hatte man Musiker u. a. aus den benachbarten anhaltinischen Residenzen Bernburg, Dessau und Zerbst an den Köthener Hof bestellt. Aus Leipzig war der Thomaskantor in Begleitung seiner zweiten Ehefrau Anna Magdalena, die vermutlich als Sopranistin mitwirkte, und seines ältesten Sohnes Wilhelm Friedemann angereist. Die Komposition einer Trauerkantate für den die »Music so wohl liebenden als kennenden Fürsten« ist jedoch nicht nur als Zeichen persönlicher Verbundenheit mit dem ehemaligen Köthener Dienstherren zu deuten: Die Lieferung einer Trauermusik war für den Köthener Hofkapellmeister Bach auch eine Pflichterfüllung.

Das formal als geistlich-weltliche Kantate einzuordnende Werk gliedert sich in vier sogenannte Abtheilungen und war auf die Abfolge im Gedächtnisgottesdienst und die Inhalte der Trauerpredigt abgestimmt. Zudem lässt das Libretto auch eine thematische Gliederung erkennen: Die erste der vier Abteilungen macht die Landestrauer zum Hauptgegenstand, die zweite das Scheiden des Fürsten und die Erlösung seiner Seele. Die nach der Predigt folgende dritte Abteilung thematisiert das Gedenken an den Verstorbenen, die letzte Abteilung Abschied und ewige Ruhe.

Die Rekonstruktionsgeschichte der Köthener Trauermusik beginnt bereits um 1873, und zwar im Zuge der Editionsarbeiten an der ersten Bach-Gesamtausgabe: Deren Mitherausgeber, der spätere Thomaskantor Wilhelm Rust, entdeckte die ersten und grundlegenden Parodiebezüge der Köthener Trauermusik zur Matthäus-Passion und zur Trauer-Ode für die Kurfürstin Christiane Eberhardine. An diesen Feststellungen orientieren sich bisherige Teilrekonstruktionen der Köthener Trauermusik (vorgelegt u. a. von Hans Grüß und Jos van Veldhoven). Die zehn Rezitativtexte der Trauermusik wurden in diesen Rekonstruktionsfassungen lediglich gesprochen dargeboten: Zwei Drittel der überlieferten Dichtung, die einen wichtigen dramaturgischen Bestandteil innerhalb des Werkes ausmachen, waren also bisher nicht musikalisch erlebbar.

Einen Ansatz zur vollständigen Rekonstruierbarkeit der Trauermusik bilden die bereits 1965 erschienenen Untersuchungen des Bach-Forschers Detlef Gojowy, der auch Parodiebeziehungen zu den Accompagnato-Rezitativen der Matthäus-Passion (zusätzlich zu den Arien und Chören) vermutete. Gojowy begründet diese Beziehung sowohl mit der Musik-Text-Kongruenz zentraler Stellen als auch mit formalen Gesichtspunkten wie z. B. der Instrumentation. Immerhin sind solche »Rezitativ-Parodien« in einigen Bachkantaten belegt - das Spektrum an Rezitativ-Bearbeitungen reicht von der Neutextierung (z. B. in der Glückwunsch-Serenata BWV 66a) bis hin zu Verkürzungen bzw. zum Einschub von neuen Takten in ältere Vorlagen (z. B in der Huldigungskantate BWV 210a).

Bis auf zwei Ausnahmen folgt die in diesem Konzert zu hörende Fassung den prinzipiellen Vorschlägen Gojowys, wobei im Einzelnen unter Beachtung der Kompositionstechnik Bachs neue Detaillösungen erarbeitet werden mussten. An den Stellen, wo also die Rezitative der Köthener Trauermusik nicht aus dem Notentext der Matthäus-Passion gewonnen werden konnten, wurde Bachs Kompositionsverfahren selbst »rekonstruiert«. Ergebnisse derartiger Bemühungen sind methodisch als historisierend angleichende Ergänzungen bzw. Neuschöpfungen zu bezeichnen. Ziel dieser Rekonstruktion ist ein zumindest ästhetisch und stilistisch geschlossener »Annäherungsversuch« an die Aufführung von 1729.

Wenn in diesem Konzert also eine erste »Gesamtrekonstruktion« von Bachs Köthener Trauermusik zu Gehör gebracht wird, so spielt die in der Bach-Forschung vielfach diskutierte Prioritätenfrage zwischen ihr und der Matthäus-Passion nur eine untergeordnete Rolle. Auch erscheint es als trivialer Empirismus, der Frage nachzugehen, zu »wieviel Prozent« eine derartige Gesamtrekonstruktion vermeintliches »Original« und historisierende »Fälschung« sei - musikalische Rekonstruktionen appellieren in erster Linie an die wesensbestimmenden ästhetisch-künstlerischen Werte von Musik.

Alexander Ferdinand Grychtolik

Mitwirkende

Theatre of Voices Capella Angelica

Alexander Ferdinand Grychtolik, Cembalo
Lautten Compagney Berlin
Ltg. Wolfgang Katschner

Capella Angelica und Lautten Comganey musizieren heute in folgender Besetzung:

Sopran: Gudrun Sidonie Otto, Inge Clerix
Alt: Ulrich Weller, Ursula Thurmair
Tenor: Benjamin Glaubitz, Christoph Burmester
Bass: Tobias Müller-Kopp, Daniel Ochoa

Violine 1: Birgit Schnurpfeil (Konzertmeisterin), Rachel Harris, Eva Heinig, Kristina Gerlach
Violine 2: Anne von Hoff, Maren Ries, Andreas Pfaff, Susanne Walter
Viola: Ulrike Paetz; Johannes Platz
Violoncello/Viola da gamba: Ulrike Becker
Violoncello: Katrin Meingast
Viola da gamba, Violone: Friederike Däublin
Kontrabass: Annette Rheinfurth

Traversföte: Andrea Theinert, Emiko Mazuda
Oboe (d'amore/da caccia): Eduard Wesly, Martin Jelev
Fagott: Györyi Farkash

Laute: Hans Werner Apel, Klaus Mader
Orgel: Mark Nordstrand
Cembalo: Alexander Grychtolik