Saison 2011/2012: Konzert 4

Sonntag, 18. Dezember 2011 17 Uhr Trinitatiskirche

Divinum misterium

Musik von der iberischen Halbinsel zur Advents- und Weihnachtszeit Ars choralis Coeln Ltg. Maria Jonas Poul Høxbro Einhandflöte und Trommel Ars Choralis Coeln Sendung auf WDR 3 am 23.12.2011

In die geistlichen Klangwelten des mittelalterlichen Spaniens entführt der gemeinsame Auftritt von Ars Choralis Coeln und dem dänischen Flötisten und Perkussionisten Poul Høxbro. Es verknüpft die Lieder des Zisterzienserinnenklosters Las Huelgas aus der Zeit um 1300 mit der bis heute lebendigen Praxis von »la gaita y el tamboril«, dem Einsatz von Einhandflöte und Trommel in der Mess-Liturgie. Maria Jonas hat für das vorweihnachtliche Konzert eine spannende Dramaturgie entwickelt, in der instrumentale Estampien auf Basis traditioneller salamankischer Offertorien den berückenden Liedgesang der Frauenstimmen umranken.

Programmfolge

Einzug
Virgines egregie
aus dem Codex Las Huelgas

»O virgo splendens«
Cuncti simus concanentes
Los set goyts recomptarem
O Virgo splendens
aus dem Llibre Vermell de Montserrat

»Divinum misterium«
Puer natus est / Divinum misterium
Recordare Virgo Mater / Ab hac familia / Alleluia
Salve Regina mater misericordie / Salve Regina glorie
Salve porta / Salve salus gencium / Salve sancta Parens
Estampie Salve Virgo (instrumental)
Verbum bonum et suave
O Maria Virgo regia / Organica cantica
Flavit auster flatu leni
Virgo parit puerum / Benedicamus Domino / Nova salus hominis
aus dem Codex Las Huelgas

»Santa Maria strela do dia«
A groiosa (instrumental)
Maldito seja quen non loará
Muito per dev’a Reynna
Santa Maria strela do dia
aus den Cantigas de Santa Maria

Pdf-Download: Gesangstexte und Übersetzungen

Divinum mysterium

Im Mittelpunkt des heutigen Programms mit iberischer Musik des Mittelalters steht der Codex Las Huelgas, umrahmt wird er von Liedern aus den bekannten Codices Llibre Vermell und Cantigas de Santa Maria.

Ich kann mich noch genau an den Moment erinnern, an dem ich zum ersten Mal das Llibre Vermell gehört habe. Ich lebte zum dem Zeitpunkt in Venezuela, es war Ende der 1980er Jahre. Ein Freund hatte mir eine Kassette mit Aufnahmen von Hespèrion XX geschickt. So weit weg von Europa und eher im Dschungel als in einer Stadt lebend, waren mir weder das spanische Ensemble noch sein Leiter Jordi Savall noch seine Sängerin Montserrat Figueras ein Begriff. So hörte ich also gänzlich unvorbereitet diese Aufnahme und war wie elektrisiert: Wenn man so Musik machen durfte, so betörend, hinreißend, so emotional und ehrlich, dann wollte ich das auch!!! Besonders die Stimme von Montserrat Figueras verführte mich. Ich wusste sofort: Ich muss zurück nach Europa. Dort habe ich die Sängerin dann auch persönlich kennenlernen können.

Am 23. November dieses Jahres verstummte ihre hinreißende Stimme für immer. Ich möchte Montserrat für alles danken, was sie mir gegeben hat, und ihr dieses Konzert mit einigen Liedern aus besagtem Llibre Vermell widmen: Que descanses en paz, querida Montserrat!

Das Llibre Vermell de Montserrat (das Rote Buch vom Montserrat) ist eine Sammlung von geistlichen Liedern des späten 14. Jahrhunderts und wird bis heute im Benediktinerkloster von Montserrat bei Barcelona aufbewahrt. Das Kloster war um die Zeit der Entstehung der Handschrift ein wichtiger Marien-Wallfahrtsort, und so besteht sie in der Mehrzahl ihrer Gesänge aus Liedern zur Verehrung Marias. Eine besondere Bedeutung kommt dem Lied Los set goyts recomptarem zu: Es ist das erste nachweisbare Beispiel für goigs, volkstümliche Gedichte über die Sieben Freuden Mariens. Da es in Montserrat keine Übernachtungsmöglichkeiten gab, mussten die Pilger die Nacht in der Kirche verbringen, und so verwandelten sie den liturgischen Raum in eine Herberge. Die Gesänge des Llibre Vermell waren dazu gedacht, die traditionellen säkularen Lieder und Tänze der feiernden Pilger während der Andacht zu ersetzen. Der Schreiber des Llibre Vermell notiert: »Da es vorkommt, dass die Pilger, die in der Kirche der heiligen Maria in Montserrat Nachtwache halten, singen und tanzen wollen, und da sie dies auch tagsüber auf dem Kirchplatz tun und dort nur sittliche und andächtige Lieder singen dürfen, sind einige hier niedergeschrieben. Diese sollten mit Vorsicht und Mäßigung verwendet werden, damit jene nicht gestört werden, die ihrem Gebet und geistlichen Kontemplationen nachgehen möchten…«

Der Codex Las Huelgas entstand um 1300 in dem Zisterzienserkloster Santa María la Real de Las Huelgas in Burgos im nördlichen Spanien, wo er bis heute aufbewahrt wird. Das Kloster war reich, da es familiär mit den kastilischen Königen verbunden war. Die Handschrift enthält lateinische Gesänge für die Liturgie. Darum überrascht es nicht, dass alle Lieder daraus auf dem gregorianischen Choral und dessen Tropen aufbauen. Bei den zwei- oder dreistimmigen Gesängen werden über die originalen gregorianischen Linien neue Melodien mit neuen Texten gelegt, die gleichzeitig gesungen wurden. Da jedem im Kloster das gregorianische Repertoire wohlvertraut war, konnte man sich auf die neuen Texte und Melodien konzentrieren.

Bei der Auswahl der Stücke zu diesem Konzert habe ich diesen Aspekt besonders berücksichtigt. Unüberhörbar ist der südfranzösische Einfluss auf die Musik: das Kloster lag auf dem Pilgerweg nach Santiago de Compostela.

Die Cantigas de Santa Maria (Lieder für die heilige Maria) wurden während der Herrschaft und im Auftrag von König Alfonso X. (1221-1284) niedergeschrieben. Mit ihren 420 Cantigas gilt diese Handschrift als eine der größten Liedersammlungen des Mittelalters. Ihre Sprache ist das Galicisch-Portugiesische, die Sprache des damaligen Hofes und der iberischen Trobadore. Viele Lieder sind mit teils aufwändigen Miniaturen verziert und dienen vor allem dem Lobpreis der Jungfrau Maria. Die Autoren der Texte und Melodien sind nicht sicher zu benennen. Gerne werden die Cantigas König Alfonso selbst zugeschrieben. Die Frage einer direkten Beteiligung des Königs bleibt aber unter den Wissenschaftlern umstritten - einige wollen zehn, andere etwa einhundert Melodien von ihm komponiert wissen. Alfonsos Manuskript stellt nicht nur eine bloße Ansammlung von Liedern und Wunderberichten dar, sondern ein kulturelles Projekt von großer Bedeutung für die mittelalterliche Literatur, Musik und Kunst. Seine Vollendung nahm den Großteil seiner Amtszeit in Anspruch. Er sah die Cantigas als ein wichtiges Mittel zu seinem politischen Überleben und seinem persönlichen Seelenheil an und schuf so ein einzigartiges Dokument seiner Zeit. Wir Musiker sind ihm bis heute zutiefst dankbar für seine Vision und seine Energie, dies umzusetzen, und so können wir seinen Beinamen el Sabio (der Weise) nur bejahen: Allein ihm ist es zu verdanken, dass uns überhaupt musikalische Zeugnisse des 13. Jahrhunderts überliefert wurden - zu den Tausenden von weltlichen Cantigas der zahlreichen iberischen Trobadore findet sich keine Musik.

Eine der interessantesten und ältesten Musiktraditionen hat sich in der spanischen Provinz Salamanca erhalten: la gaita y el tamboril - das gleichzeitige Spielen von Pfeife und Trommel auch im kirchlichen Rahmen. In den Cantigas de Santa Maria findet sich die erste Abbildung eines Musikers, der Einhandflöte und Trommel spielt. Aus französischen Quellen wissen wir, dass mancherorts nach dem Alleluja ein Instrumentalstück (eine Estampie?) von verschiedenen Instrumenten, oft einer Fidel gespielt wurde. Wir haben auch Erkenntnisse darüber, dass Fidel und »Einhandflöten-Trommel-Einmann-Ensemble« miteinander gespielt haben. Bis zum Ende des 16. Jahrhunderts kamen Einhandflöte und Trommel in Europa nach und nach aus der Mode - aber nicht auf der iberischen Halbinsel.

In unserem Konzert wollen wir diese mittelalterlichen liturgischen Gesänge und Traditionen miteinander verknüpfen. Und so spannt sich der musikalische Bogen über 750 Jahre hinweg bis heute, getragen von den Klängen der Frauenstimmen und der Einhandflöte-Trommel.

Maria Jonas

Mitwirkende

Poul Høxbro - Einhandflöte, Trommel
Ars choralis Coeln
Ltg. Maria Jonas

Ars Choralis Coeln tritt heute in folgender Besetzung auf:
Stefanie Brijoux, Sylvia Dörnemann, Maria Jonas, Uta Kirsten, Lara Langguth, Pamela Petsch, Heike Pichler - Gesang
Lucia Mense - Flöten
Susanne Ansorg - Fidel und Glocken
Uta Kirsten - Harfe