Saison 2015/2016: Konzert 5

Sonntag, 24. Januar 2016 17 Uhr WDR-Funkhaus

Bach und Dresden

Musik von Johann Sebastian Bach, Johann Georg Pisendel und Silvius Leopold Weiss Midori Seiler, Violine | Christian Rieger, Cembalo Christian Rieger, Midori Seiler Sendung auf WDR 3 am 18. Februar 2016, ab 20:05 Uhr.

Anfänglich sei es ihm nicht leichtgefallen, »aus einem Capellmeister ein Cantor zu werden«, gesteht Johann Sebastian 1730. Umso schöner müssen für ihn die gelegentlichen Gastspiele in der Residenzstadt Dresden mit ihrer unübertrefflichen Hofkapelle gewesen sein und die Gegenbesuche der Dresdner Virtuosen in Leipzig. Midori Seiler und Christian Rieger spüren auf Violine und Cembalo den reizvollen Beziehungen zwischen der Bach´schen Sonatenkunst und kompositorischen Ideen von Dresdner Freunden wie dem Geiger Johann Georg Pisendel und dem Lautenisten Silvius Leopold Weiss nach.

Programmfolge

Johann Sebastian Bach (1685-1750)
Sonate e-Moll BWV 1023
für Violine und Basso continuo
Praeludium/Adagio ma non tanto – Allemande – Gigue
Johann David Heinichen (1683-1729)
Sonate c-Moll S. 266
für Violine und Basso continuo
Adagio – Andante – Affettuoso – Allegro
Johann Adolf Hasse (1699-1783)
Sonate D-Dur op. 5,4
für Violine und Basso continuo
Largo – Allegro – Adagio – Allegro
Johann Sebastian Bach/Johann Georg Pisendel? (1687-1755)
Sonate c-Moll (olim BWV 1024)
für Violine und Basso continuo
Adagio – Presto – Affettuoso – Vivace

Pause

Johann David Heinichen/Johann Sebastian Bach?
Kleines harmonisches Labyrinth (olim BWV 591)
für Tasteninstrument
Johann Sebastian Bach/Silvius Leopold Weiss
Suite A-Dur BWV 1025
für Violine und Cembalo obligato
Fantasia – Courante – Entrée – Rondeau – Sarabande – Menuett – Allegro

Künstlerisches Geben und Nehmen

Zwischen 1694 und 1756, während der Regierungszeit des sächsischen Kurfürsten Friedrich August I. und seines Sohnes und Nachfolgers Friedrich August II., stieg die Residenzstadt Dresden zu einer europäischen Metropole von internationalem Rang auf. Sie wurde nach französischem und italienischem Vorbild gestaltet, um den Reichtum, die Macht und den Einfluss ihrer Herrscher widerzuspiegeln. Der größte Einfluss der Kurfürsten, die als August II. und August III. auch die polnische Königswürde innehatten, wurde in der Förderung der Kultur- und Musiklandschaft in Dresden deutlich, in der sie sich als große Mäzene der Kunst etablierten. Mit ihrer ausgezeichneten Hofkapelle, die weltweiten Ruhm erlangte, den gefeierten Aufführungen von italienischen Konzerten und Opern, aber auch dank der Darbietungen geistlicher Werke in der Sophien- und der Frauenkirche wurde die Stadt zu einem Zentrum der barocken Musik. Dadurch stellte Dresden für die damaligen Intellektuellen, Künstler und Musiker ein attraktives Reiseziel dar. Die auswärtigen Gäste wiederum brachten verschiedene kulturelle und vor allem musikalische Einflüsse aus ihrer Heimat nach Dresden, wodurch sich die Stadt zu einem inspirierenden Ort des Kulturtransfers entwickelte.

Einer dieser Gäste war Johann Sebastian Bach, der schnell eine große Begeisterung für Dresden entwickelte. In seiner Zeit als Kantor an der Thomasschule und als Leiter des Collegium musicum in Leipzig reiste er regelmäßig in die sächsische Residenzstadt, um sich u. a. mit den Musikerkollegen Johann Adolf Hasse, Johann Georg Pisendel und Silvius Leopold Weiss auszutauschen.

Im Konzertprogramm des heutigen Abends greifen Midori Seiler und Christian Rieger den Geist dieses anregenden Austauschs wieder auf, indem sie sich mit den Sonaten und anderen Werken für Violine und Cembalo von Johann Sebastian Bach und seinen Dresdner Zeitgenossen auseinandersetzen.

Als Bach 1717 – damals noch als Köthener Hofkapellmeister – das erste Mal Dresden besuchte, erregte vor allem die Musik der Hofkapelle seine Aufmerksamkeit. Johann David Heinichen war ihr damaliger Kapellmeister, Weiss als der zu dieser Zeit berühmteste Lautenist und Pisendel als der beste Geiger Deutschlands waren Mitglieder der Hofkapelle. Seitdem ließ sich Bach gern in Dresden von den vielen musikalischen Einflüssen und neuen Musikstilen inspirieren. Ein gewisse ironische Distanz des Kontrapunktikers Bach gegenüber dem Opernstil an der Elbe drückt sich allerdings in einem Brief an seinen Sohn Wilhelm Friedemann aus, in dem er seiner Freude Ausdruck verleiht, » die schönen Dresdener Liederchen einmal wieder zu hören «. Wilhelm Friedemann Bach war zwischen 1733 und 1746 als Organist an der Dresdner Sophienkirche tätig. Im September 1731 hatte Johann Sebastian wahrscheinlich die Premiere von Cleofide besucht, der ersten in Dresden aufgeführten Oper Hasses, der nach Heinichens Tod im Jahr 1729 die Stelle des Kapellmeisters übernommen hatte. Hasse hatte zuvor in Neapel gewirkt, wo er auch von Alessandro Scarlatti unterrichtet worden war. Entsprechend war auch Cleofide eine Oper im italienischen Stil, die ihn europaweit zu einem der gefragtesten Opernkomponisten machte. Bach ist vermutlich auch mehrmals in den 1730er Jahren von Hasse und dessen Frau, der italienischen Mezzosopranistin Faustina Bordoni, in Leipzig besucht worden. Silvius Leopold Weiss und weitere Dresdner Kapellmitglieder dürften ebenfalls als Gäste Bachs im Leipziger Collegium musicum aufgetreten sein. Einige der Aufenthalte Bachs in Dresden zwischen 1725 und 1731 sind andererseits mit Auftritten als Organist in der Sophienkirche verbunden. Im Jahr 1736 wurde Bach von August III. der Titel eines königlich-polnischen und kurfürstlich-sächsischen Hofcompositeurs verliehen, wofür er sich anschließend mit einem Orgelkonzert in der Frauenkirche revanchierte.

Die Sonaten des heutigen Konzertprogramms fügen die Virtuosität der Violine mit der füllenden und bei Bach gerne auch dialogisierenden harmonischen Begleitung des Cembalos als Basso-continuo-Instrument zusammen. Die Violine war in der Barockzeit ein Symbol musikalischer Meisterschaft und galt als eines der anspruchsvollsten und wichtigsten Soloinstrumente. Bach zählt zu den Komponisten, die – neben dem Italiener Antonio Vivaldi – die Violinkunst technisch und musikalisch fundamental weitergebracht haben. Viele seiner Sonaten und Partiten für Violine gehören heute zum Standardrepertoire für Geiger.

Die Sonate e-Moll für Violine und Basso continuo BWV 1023 eröffnet den Abend. Sie gilt als eines der besten Beispiele für die hervorragende Bach’sche Sonatenkunst und ist geradezu ein Kompendium für Geiger. Die viersätzige Komposition zeigt einen eigenen Geist, was ihre Struktur angeht, denn sie stellt einen Hybridtypus zwischen den damals ausgeprägten italienischen Modellen der Sonata da chiesa mit vier Sätzen in abwechselnd langsamem und schnellem Tempo und der Sonata da camera mit mehreren Tanzsätzen dar, die einem Präludium folgen und sich in langsamen und schnellen Tempo-Charakteren abwechseln. Die Sonate beginnt mit einem fast improvisiert wirkenden Präludium über einem ausgehaltenen Basston auf e im Stile einer ausgedehnten harmonischen Phantasie. Einem rhythmisch beweglichen und melodisch sehnsüchtigen Adagio ma non tanto als zweitem Satz folgen zwei Tanzsätze, eine kräftige Allemande und eine nachdenkliche Gigue – als ob sie die Sonata da camera neu erfinden möchten. Komponiert wurde die Sonate zwischen 1708 und 1717, in Bachs Jahren als Weimarer Hoforganist und Kammermusiker. Aus dieser Zeit rührt auch seine Freundschaft mit Pisendel her, der im März 1709 in Weimar Station machte, als er aus seiner fränkischen Heimat zum Studium nach Leipzig reiste.

Die Sonate c-Moll für Violine und Basso continuo S. 266 von Heinichen und die Sonate D-Dur für Violine und Basso continuo op. 5,4 von Hasse offenbaren den Einfluss, den die Italienaufenthalte der beiden Komponisten auf ihre Musik hatten; beide Male ist das typische Modell der Sonata da chiesa mit dem Wechsel von langsamen und schnellen Sätzen gut zu erkennen.

Die Urheberschaft der Sonata in c-Moll für Violine und Basso continuo (olim BWV 1024) gibt heute immer noch Rätsel auf. Das Werk wird oft Pisendel zugewiesen, dem Stil nach könnte es jedoch auch gut von Bach stammen, da es mehrere Analogien zu seinen authentischen Violinwerken aufweist. Vielleicht entstand es bei einer der Begegnungen der beiden Komponisten, in denen viel diskutiert und gespielt wurde.

Rätselhaft ist auch die Entstehung des Kleinen harmonischen Labyrinths (olim BWV 591), die sowohl auf Bach als auch auf Heinichen verweist. Das Stück experimentiert mit harmonischen Möglichkeiten, die aus der Ambiguität des verminderten Septakkordes, enharmonischen Verwechslungen und Akkord-Rückungen entstehen. Die Musik gelangt über unerwartete Modulationen und Trugschlüsse in die entferntesten Tonarten, so dass tatsächlich der Eindruck eines Labyrinths entsteht.

Die Suite in A-Dur für Violine und Cembalo obligato BWV 1025 ist die Transkription einer Lautensuite in der gleichen Tonart von Weiss und fügt sich perfekt in den Zusammenhang des heutigen Konzertprogramms, denn auch hier kann die Entstehung des Stücks mit der Freundschaft beider Komponisten und ihrem fruchtbaren künstlerischen Austausch verbunden werden. Weiss ist einer der letzten Vertreter der Lautenmusik, bevor diese allmählich in Vergessenheit geriet. Seine improvisatorische Kunst auf dem Zupfinstrument lässt sich durchaus mit Bachs improvisatorischer Kunst am Tasteninstrument messen. 1739 kam Weiss zu einem Gastspiel nach Leipzig, und es wird vermutet, dass Bach dort das Stück aus Wertschätzung für Weiss bearbeitete. Bach hat dabei versucht, die Lautenspieltechniken auf das Cembalo zu übertragen, indem er eine kontrapunktische Stimme hinzufügte, die die originale Lautenstimme erweitert und sich auf die Violine und die rechte Hand des Cembalisten verteilt. Der Rhythmus und die Stimmführung wurden von Bach durch Veränderungen und Ornamente präzisiert.

Inês Pizarro Correia
Der Textbeitrag entstand im Rahmen einer Zusammenarbeit von musik + konzept e. V. mit dem Master-Studiengang Musikwissenschaft an der Hochschule für Musik und Tanz Köln (Vertr.-Prof. Dr. Corinna Herr).

Mitwirkende

Midori Seiler - Violine
Midori Seiler spielt im heutigen Konzert eine Violine von Andrea Guarneri aus dem 17. Jahrhundert.
Christian Rieger - Cembalo
Im heutigen Konzert spielt Christian Rieger auf einem Cembalo nach Pierre Donzelague aus der Werkstatt von Detmar Hungerberg.