Saison 2015/2016: Konzert 8

Sonntag, 22. Mai 2016 17 Uhr WDR-Funkhaus

Concertissimo

Konzerte für mehrere Instrumente von Charles Avison, Johann Sebastian Bach, Francesco Saverio Geminiani und Georg Philipp Telemann Concerto Köln Concerto Köln Sendung auf WDR 3 am 28. Juni 2016 ab 20:05 Uhr

Um das Jahr 1700 trat von Italien aus eine neue Instrumentalgattung ihren Siegeszug durch Europa an: das Konzert. Ob in der Metropole London oder mitteldeutschen Duodez-Residenzen: die Musiker nahmen die Concerto-grosso-Modelle des Römers Arcangelo Corelli und Solokonzerte des Venezianers Antonio Vivaldi, aber auch eine Cembalosonate des neapolitanischen Wahl-Spaniers Domenico Scarlatti oder die Volksmusik vor dem eigenen Stadttor zu Ausgangspunkten origineller Eigenkreationen. So kann Concerto Köln im Abschlusskonzert der Saison ein wahres Kaleidoskop der Formen, Farben und Klänge entfalten.

Programmfolge

Charles Avison (1709–1770)
Concerto VI D-Dur für Streicher und Basso continuo
aus Twelve Concertos in Seven Parts nach Cembalosonaten von Domenico Scarlatti
Largo – Con Furia –  Adagio – Vivacemente
Johann Sebastian Bach (1685–1750)
Concerto c-Moll BWV 1060
für Oboe, Violine, Streicher und Basso continuo
Allegro – Largo ovvero Adagio – Allegro
Francesco Saverio Geminiani (um 1679–1762)
Concerto grosso D-Dur op. 3,1
für Streicher und Basso continuo
Adagio – Allegro – Adagio – Allegro
Georg Philipp Telemann (1681–1767)
Concerto e-Moll TWV 52:e3
für Traversflöte, Violine, Streicher und Basso continuo
[Allegro] – Adagio – Presto – Adagio – Allegro
Pause

Georg Philipp Telemann
Concerto D-Dur TWV 53:D5 für Trompete, Violine, Violoncello, Streicher und Basso continuo
Vivace – Adagio – Allegro
Charles Avison
Concerto IV a-Moll für Streicher und Basso continuo
aus Twelve Concertos in Seven Parts
Andante – Allegro – Largo – Vivace
Georg Philipp Telemann
Concerto e-Moll TWV 52:e1
für Blockflöte, Traversflöte, Streicher und Basso continuo
Largo – Allegro – Largo – Presto

Konzertantes zwischen Themse, Tyne und Thüringen

Die Idee des gemeinsamen musikalischen Wettstreits, bei dem es in der Regel nur Gewinner gibt, hat die barocken Komponisten und Virtuosen bewegt wie keine andere. Einen besonderen Platz fand sie in den groß besetzten Instrumentalaufführungen vor einem Eintritt zahlendem Publikum, das die Veranstalter wie die Veranstaltungen selbst seit dem frühen 18. Jahrhundert immer häufiger als Concert bezeichnete. Das heutige Programm wirft den Blick auf zwei Zentren des barocken Concertos nördlich der Alpen: auf England und auf Mitteldeutschland. Hier wie dort kursierten kurz nach 1700 die Drucke der italienischen Meister, hier wie dort profitierte man aber auch von persönlichen Beziehungen, um sich manch weniger geläufiges, aber nicht weniger kostbares Stück Musik in handschriftlicher Kopie zu verschaffen und sich davon zu eigenen Werken inspirieren zu lassen.

Seit englische Adelige von ihren Kavalierstouren entsprechende Noten-Souvenirs mitgebracht hatten, war die Begeisterung für die Musik des römischen Violinmeisters Arcangelo Corelli auf der britischen Insel besonders groß. Das sicherte in der Folge so manchem italienischen Geigenvirtuosen der Corelli-Schule das Entree in die Londoner Musikwelt – mit der sich Francesco Geminiani am nachhaltigsten identifizierte. In Lucca geboren und ausgebildet, war er sowohl bei Corelli als auch bei dem neapolitanischen Opernmeister Alessandro Scarlatti in die Lehre gegangen. Seit 1714 in London ansässig, griff er als Komponist vornehmlich die von seinem römischen Lehrer etablierte Form des Concerto grosso auf. Dessen kompositorischer Ausgangspunkt ist die barocke Triosonate, doch die eigentliche Werkidee verwirklicht sich im kunstvollen Wechsel zwischen dem solistisch besetztem Concertino-Triosatz und seinem vielstimmigen Widerhall im großen Ensemble, das dieser Konzertform ihren Namen gegeben hat.

Über Geminianis erfolgreiche Umarbeitungen von Violin-Sonaten aus Corellis damals schon legendärem Opus 5 zu Concerti hat die Nachwelt seine originären Orchesterwerke fast vergessen, von denen heute das Concerto grosso D-Dur aus dem Opus 3 von 1732 zu hören ist. Geminiani modifiziert darin das Corelli’sche Prinzip geringfügig, indem er in die Concertino-Passagen auch eine solistische Bratsche einbezieht.

Als Violinpädagoge hat sich Geminiani ebenfalls profilieren können – seine Lehrschrift The Art of Playing on the Violin von 1751 ist zu einem bis heute rezipierten Klassiker geworden. Sein pädagogisches Geschick veranlasste wohl auch Charles Avison, den begabten Sohn eines Stadtmusikanten aus Newcastle upon Tyne, sich von Geminiani unterweisen zu lassen. Vorangegangen war offenbar ein Italien-Aufenthalt Avisons im Gefolge eines englischen Kunstmäzens. 1735 wurde er mit 26 Jahren zum Kirchenorganisten in Newcastle berufen, und von dort konnten ihn auch in den verbleibenden dreieinhalb Jahrzehnten seines Lebens keine noch so lukrativen musikalischen Stellenangebote mehr weglocken – ob sie aus London kamen, aus Durham, York Dublin oder Edinburgh.

Seine Concerti grossi schrieb Avison als Leiter der bürgerlichen Newcastle Musical Society, deren Konzerte 1760 sogar Geminani einen Besuch wert waren. Wie dieser hat sich auch Avison an der Umarbeitung geringstimmiger Kompositionen in Orchesterwerke versucht – und ebenfalls mit großem Erfolg: Die Twelve Concertos in Seven Parts von 1744 nehmen Cembalo-Sonaten von Alessandro Scarlattis Sohn Domenico zum Ausgangspunkt, dem berühmten italienischen Tastenvirtuosen in Spanien. 1738/39 war in London eine Auswahl dieser Sonaten unter dem Titel Essercizii per gravicembalo im Druck erschienen; Avisons Zusammenstellung greift aber auch auf handschriftlich überlieferte Scarlatti-Stücke zurück, die ihm besonders geeignet schienen, den Tastensatz auf ein Concertino mit zwei Soloviolinen und Violoncello sowie ein Tutti mit zwei zusätzlichen Violinen, Viola und Basso continuo zu übertragen. In den Konzerten findet sich die virtuose oder kantable Führung der rechten Hand aus der Sonaten-Vorlage in entsprechenden Passagen für Solo-Violine wieder; vollstimmige Tanzsätze und Fugen spiegeln sich im Tutti-Satz der Orchesterfassung. Wer ihre Herkunft nicht kennt, kann die beiden Avison-Werke des heutigen Abends aber ebenso gut als originäre Orchesterwerke in der Tradition jener Grand Concertos hören, mit denen sich auf der britischen Insel selbst ein Georg Friedrich Händel als Corelli-Adept präsentiert hat.

Erfreute man sich in den bürgerlichen Konzertakademien Englands in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts vornehmlich am bisweilen sinfonisch ausgeweiteten Streicherklang der Concerti grossi, schätzte man in Deutschland zur gleichen Zeit besonders jene Spielart des Konzerts, die eines und gelegentlich auch zwei oder drei Soloinstrumente in klar abgegrenzten Episoden von den leicht fasslichen Ritornellen des orchestralen Tuttis abhebt – diese Form verbindet sich heute untrennbar mit dem Namen des venezianischen Violinmeisters Antonio Vivaldi. Anstelle der Violine besetzte man die Solopositionen in Deutschland gerne auch mit unterschiedlichen Blasinstrumenten – in welcher Bandbreite das geschah, davon geben die vier Kompositionen deutscher Provenienz exemplarische Eindrücke, die sich im heutigen Programm mit den Streicherklängen von der Insel abwechseln.

Um zum Concerto c-Moll für Oboe, Violine, Streicher und Basso continuo zu gelangen, muss man allerdings bei einer Tastenbearbeitung ansetzen, die Johann Sebastian Bach in den 1730er Jahren für sein studentisches Collegium musicum (eine Leipziger Früh-Form des bürgerlichen Konzertwesens) angefertigt hat. Denn nur in dieser späteren Fassung für zwei Cembali, Streicher und Basso continuo BWV 1060 ist das Konzert überliefert, das durchaus schon zwischen 1714 und 1723 entstanden sein könnte, in Bachs Jahren als Konzertmeister am Weimarer Hof und als Köthener Hofkapellmeister. Aus der Melodieführung und dem Tonumfang der Solostimmen, die Bach in Leipzig den rechten Cembalistenhänden anvertraut hat, lässt sich die ursprüngliche Besetzung mit Oboe und Violine schlüssig ableiten.

Bach lernte Vivaldis Konzerte spätestens 1713 kennen, als der junge Weimarer Prinz Johann Ernst von seiner Kavalierstour mit den neuesten Amsterdamer Notendrucken nach Thüringen zurückkehrte. Vermutlich hatte aber schon der spätere Dresdner Konzertmeister Johann Georg Pisendel den Weimarer Kollegen mit der Sprache des italienischen Concertos vertraut gemacht. Er kam im März 1709 auf dem Weg von Franken nach Leipzig bei Bach in Weimar vorbei und hatte als Schüler des Ansbacher Hofkapellmeisters Giuseppe Torelli gerade einen Concerto-Stil kennengelernt, der im Vergleich zu Vivaldis Ritornell-Schematismus noch etwas flexibler disponiert. Doch ob nun nach dem Vorbild Torellis oder Vivaldis: Bach hat seine Lektion in Sachen Concerto schnell verinnerlicht. So dürfen die beiden Soloinstrumente in den Rahmensätzen des Doppelkonzertes mit souveräner Virtuosität und effektvollen Echo-Imitationen glänzen, im langsamen Mittelsatz aber selbst in Dur eine Melancholie entfalten, die auch heute noch nichts von ihrer außergewöhnlichen, echt bachischen Expressivität verloren hat.

Neben Pisendel war für den Weimarer Konzertmeister Bach der Freund und Kollege Georg Philipp Telemann ein wertvoller Diskussionspartner in musikalischen Fragen. Zwischen 1708 und 1712 ist er als Konzertmeister im nahen Eisenach mit dem Aufbau der Hofkapelle befasst, und auch später, als Telemann zunächst in Frankfurt, dann ab 1721 in Hamburg als städtischer Musikdirektor wirkt, reißt der Kontakt nicht ab. Telemann ist früh schon in den verschiedensten Stilen bewandert. Er kennt das italienische Konzert so gut wie die französische Suite, und er hat als Hofmusiker im schlesischen Sorau seit 1705 Grenzerfahrungen im zünftigen Stil der polnisch-hanakischen Volksmusik gemacht. Man sollte kaum glauben, was dergleichen Bockpfeiffer oder Geiger für wunderbare Einfälle haben, konstatiert er dazu noch 1740. Ein Aufmerckender könnte von ihnen in 8. Tagen Gedancken für ein gantzes Leben erschnappen. Ich habe, nach der Zeit, verschiedene grosse Concerte und Trii in dieser Art geschrieben, die ich in einen italiänischen Rock, mit abgewechselten Adagi und Allegri, eingekleidet.

Die etwa einhundert überlieferten Konzerte Telemanns bieten dabei keineswegs Konfektionsware von der Stange: mit nie versiegender Experimentiertlust bringt er immer wieder andere Instrumente in seinen Doppel- und Gruppenkonzerten zusammen; er bedient sich hier dem Gestus eines italienischen Virtuosen, wartetet dort mit der tänzerischen Eleganz der Franzosen auf, und gelegentlich blitzt auch seine Souveränität im Umgang mit der in Deutschland hochgeschätzten gelehrten Fugenkunst durch. Der Vergleich zwischen den konzertanten Dialogpartien von Traversflöte und Violine im Concerto e-Moll TWV 52:e3 und dem Wechselspiel von Trompete, Violine und Violoncello im Concerto D-Dur TWV 53:D5 zeigt überdies, wie gekonnt Telemann sogar das heikel zu blasende metallene Naturtoninstrument zu behandeln weiß: Er gibt ihm als Tutti-Klangkrone, die in den Rahmensätzen melodische und rhythmische Akzente beiträgt, eine deutlich andere Solistenrolle als der ersten Geige. Im Concerto e-Moll TWV 52:e1 hat sich Telemann schließlich um das Jahr 1720 noch einmal einen hinreißend bunten hanakischen Rock übergeworfen, um in pastoralen Block- und galanten Traversflötenklängen Altes und Neues mal mit-, mal gegeneinander spielen zu lassen.

behe

Mitwirkende

Concerto Köln
Im heutigen Konzert spielt Concerto Köln in folgender Besetzung:
Violine 1: Mayumi Hirasaki (Konzertmeisterin), Stephan Sänger, Frauke Pöhl, Horst-Peter Steffen
Violine 2: Jörg Buschhaus, Antje Engel, Hedwig van der Linde, Chiharu Abe
Viola: Aino Hildebrandt, Claudia Steeb, Cosima Nieschlag
Violoncello: Alexander Scherf, Ulrike Schaar
Kontrabass: Jean-Michel Forest
Trompete: Almut Rux
Blockflöte, Traversflöte: Cordula Breuer, Marion Moonen
Oboe: Peter Tabori
Fagott: Lorenzo Alpert
Cembalo: Gerald Hambitzer