Saison 2018/2019: Konzert 8

Sonntag, 26. Mai 2019 WDR-Funkhaus 17 Uhr

Venezia – London – Venezia

Concerti von Vivaldi, Geminiani, Albinoni u.a. Midori Seiler – Violine Concerto Köln Midori Seiler Sendung auf WDR 3 am 10. Juni 2019 ab 21.04 Uhr

Einmal London und zurück: Das galt unter italienischen Musikern um 1700 als Zauberformel für eine erfolgreiche Karriere. Mancher blieb an der Themse, wo man sich damals gar nicht satthören konnte am bald wahnwitzig rasanten, bald betörend melancholischen Spiel der Violinmeister aus dem Süden. Warum sich London um die Concerti eines Tomaso Albinoni und Antonio Vivaldi riss und Francesco Geminiani zum Bleiben bewegte: das versteht, wer Concerto Köln und seine Solistin Midori Seiler in dieser besonderen Programmauswahl hört.

Programmfolge

Pietro Castrucci (1679–1752) Concerto grosso a-Moll op. 3,4 für Streicher und Basso continuo (London 1736) Adagio andantino – Allegro ardito – Adagio un poco andantino – Allegro spirituoso Francesco Geminiani (1687–1762) Concerto grosso D-Dur op. 3,1 für 2 Violinen, Viola, Violoncello, Streicher und Basso continuo (London 1732) Adagio – Allegro – Adagio – Allegro Baldassare Galuppi (1706–1785) Concerto a quattro Nr. 1 g-Moll für Streicher und Basso continuo Grave e adagio – Spiritoso – Allegro Antonio Vivaldi (1678–1741) Concerto E-Dur ›per Anna Maria‹ RV 270a für Streicher und Basso continuo Allegro – Andante – Allegro Pause Francesco Geminiani Concerto grosso B-Dur op. 7,6 für 2 Violinen, Viola, Violoncello, Streicher und Basso continuo (London 1746) Allegro moderato/Adagio/Andante/Andante – Adagio/Presto – Adagio/Presto – Affettuoso/Andante – Allegro moderato – Andante/Adagio/Allegro assai/Adagio/Presto Tomaso Albinoni (1671–1751) Concerto B-Dur op. 10,1 für Violine, Streicher und Basso continuo (Amsterdam 1735/36) Allegro – Adagio – Allegro Antonio Vivaldi Concerto d-Moll ›per Anna Maria‹ RV 248 für Violine, Streicher und Basso continuo Allegro – Largo/Presto/Adagio/Presto/Adagio – Allegro ma non tanto

Musikalische Nord-Süd-Beziehungen

Wer bey diesen Zeiten etwas in der Music zu praestiren vermeinet, der begibt sich nach Engelland. In Italien und Frankreich ist was zu hören und zu lernen; in Engelland was zu verdienen, im Vaterlande aber am besten zu verzehren. Das konstatierte 1713 der Hamburger Musiker und Publizist Johann Mattheson in seiner Debütschrift Das Neu-Eröffnete Orchestre. Da war London längst zu einem vielversprechenden Ziel ambitionierter Musiker aus aller Welt geworden. Seit Jahrzehnten begeisterte sich der englische Adel, zunehmend aber auch das kulturinteressierte Bürgertum vor allem für die Musik Italiens, und entsprechend offen war man für Interpreten, die diese Kunst scheinbar schon mit der Muttermilch aufgesogen hatten.

In den 1670er Jahren hatte mit Nicola Matteis ein erster italienischer Violinvirtuose in England Furore gemacht – und war geblieben. Kurz darauf brachten englische Adelige Abschriften von Werken des römischen Violinmeisters Arcangelo Corelli als Souvenirs ihrer Kavalierstouren nach Hause. Die Begeisterung für dessen Musik entwickelte sich zum wahren Hype; seit 1685 kursierten seine Sonaten in englischen Druckausgaben.

Ein Brüderpaar, mutmaßlich Schüler Corellis, wurde 1715 von Richard Boyle, dem Earl of Burlington, auf seiner ersten Italienreise als persönliche Musiker engagiert: die Geiger Prospero und Pietro Castrucci. Der ältere Pietro hatte einige Jahre zuvor schon in Rom neben Georg Friedrich Händel in der Privatkapelle des Marchese Francesco Maria Ruspoli musiziert. In der Begleitung ihrer neuen Dienstherren kamen die Brüder nach London, wo sie neben ihrer Tätigkeit für den Earl auch etwa zwei Jahrzehnte lang unter Händel im Opernorchester der Royal Academy of Music spielten – Pietro übernahm dabei von Anfang an die leitende Funktion des Konzertmeisters.

1736 präsentierte er sich im führenden Londoner Verlagshaus John Walsh mit dem Druck seines Opus 3 auch als Komponist von zwölf Concerti grossi nach dem längst zum Klassiker gewordenen Vorbild, Corellis posthum 1714 erschienenem Opus 6. Es handelt sich um Kompositionen für, wie es der Titel formuliert, zwei obligate Violinen und Violoncello als Concertino und zwei weitere Violinen, Viola und Bass als Concerto grosso. Kompositorischer Ausgangspunkt und Grundsubstanz ist die barocke Triosonate für zwei Violinen und Basso continuo, doch die eigentliche Werkidee verwirklicht sich im kunstvollen Gegenüber von solistischem Triosatz und seinem chorischen Widerhall im großen Ensemble, das dieser Konzertform ihren

Namen gegeben hat.

Das Concerto Nr. 4 a-Moll aus Castruccis Sammlung zeigt aber deutlich, dass die Zeit seit Corellis Tod nicht stehengeblieben war: Melodische Eingängigkeit bestimmt hier die Themengestaltung stärker als kontrapunktische Raffinesse, und nach der kurzen gemessenen Tutti-Einleitung steht in den beiden Folgesätzen eindeutig die erste Violine als Virtuosin im Vordergrund, während sich ihr die zweite Violine erst im abschließenden Allegro spiritoso ausgiebiger als Concertino-Partner anschließt.

Kurz vor Castrucci hatte 1714 ein anderer Corelli-Schüler den erfolgreichen Weg nach London angetreten: Francesco Geminiani. Dort etablierte er sich mühelos als Interpret und Komponist; nicht zuletzt wurde er einer der führenden Violinpädagogen seiner Zeit, dessen Lehrschrift The Art of Playing on the Violin von 1751 zu einem bis heute rezipierten Klassiker avancierte. Für Geminianis Ansehen an der Themse spricht auch, dass er 1725 als Gründungsmitglied der freimaurerischen Philo-Musicae et Architecturae Societas gleich zu deren Vorsitzendem gewählt und damit beauftragt wurde, Violinsonaten aus Corellis Opus 5 in eigener Bearbeitung als Concerti grossi drucken zu lassen. Darüber hat die Nachwelt Geminianis originäre Orchesterwerke fast vergessen, von denen heute zunächst das Concerto grosso D-Dur aus dem Opus 3 zu hören ist. Geminiani modifiziert darin das Corelli’sche Prinzip geringfügig, indem er in die Concertino-Passagen auch eine solistische Bratsche einbezieht.

Eine letzte Folge von Concerti grossi, veröffentlicht 1746 im Eigenverlag als Opus 7, ist durchdrungen von einer neuen, französisch anmutenden Eleganz. Zwei Paris-Aufenthalte 1732 und 1740 haben da ihre Spuren hinterlassen. Das verleiht der Musiksprache des ›späten Geminiani‹ besondere Noten. Wie schon in seinen Concerti grossi op. 2 von 1732 hat Geminiani hier in einigen Konzerten die Partien der Concertino-Gruppe so angelegt, dass sie alternativ mit zwei Traversflöten und Fagott besetzt werden kann. Das Concerto Nr. 6 B-Dur mit seinen vielen Charakterwechseln sogar innerhalb der einzelnen Sätze versinnbildlicht vielleicht am schönsten, wie sich unterschiedlichste Eindrücke und künstlerische Ideen zu einem einzigartigen Ganzen fügen können.

Waren Castrucci und Geminiani auch beide Schüler Corellis, so ist in die solistischen Violinpartien ihrer Concerti doch manches von dem eingeflossen, was ein venezianischer Antipode des römischen Violinmeisters kurz nach 1700 zur Serienreife entwickelt hatte: Antonio Vivaldi. 1712 machte eine vorzügliche Edition des Amsterdamer Verlagshauses Roger Vivaldis Prinzip des Solokonzertes europaweit bekannt. Diese Werke sind vornehmlich für ein Melodieinstrument und Orchester geschrieben und integrieren eine wohl dosierte Menge eingängiger Motive mit größter satztechnischer Souveränität in leicht fassliche Ritornell-Formen. Als musikalisches Experimentierfeld für dieses Konzert-Modell hatte Vivaldi das Ospedale della Pietà gedient, eines der venezianischen Mädchen-Waisenhäuser, die ihren talentiertesten Zöglingen eine exquisite musikalische Ausbildung boten. Dort bekleidete Vivaldi als maestro di violino und später als maestro de’ concerti immer wieder befristete Teilzeitstellen, und dort traf er auf eine Musikerin, deren Violinkunst ihn bei der Kompositionen seiner Concerti offenbar besonders inspirierte: Anna Maria ›dal Violin‹. Einen Familiennamen hat die wohl 1696 geborene Musikerin nie erhalten, die als Findelkind in diesem Waisenhaus aufwuchs, später dort selbst als maestra Violine unterrichtete und auch bis zu ihrem Lebensende im Alter von 86 Jahren dort wohnen blieb.

In einem Stimmbuch haben sich 31 Concerti per Signora Anna Maria erhalten, also ihr gewidmete Violinkonzerte mit einer entsprechend ornamentierten Solopartie. Mindestens 25 dieser Konzerte stammen von Vivaldi. Er verschaffte ihr bezeichnenderweise 1712 eine neue Violine – die schon 1720 von einem noch wertvolleren Instrument abgelöst wurde! Zwei dieser Concerti Vivaldis für seine Schülerin sind heute zu hören und geben einen Eindruck von der Kunst dieser Musikerin, über die der waldeckische Hofrat Johann Christoph Nemeitz nach seinem Venedig-Besuch 1721 anerkennend äußerte, dass sie von Virtuosen unsers Geschlechts wenig ihres gleichen hat.

Das durchweg mit Dämpfer zu spielende Concerto E-Dur RV 270, das ursprünglich zu einer weihnachtlichen Aufführung entstand, erklingt dabei mit Anna Marias Alternativ-Fassung des Mittelsatzes, von der wir nur die Solopartie aus ihrem Stimmbuch kennen. Christian Rieger hat für Concerto Köln die übrigen Stimmen rekonstruiert. Dem gegenüber schlägt das Concerto d-Moll RV 248 zunächst einen tragisch-melancholischen Ton an, den die Solopartie mit ihren Doppelgriffen intensiviert. Der harmonisch extrem spannungsvolle und überdies rhythmisch kontrastreiche Mittelsatz wirkt dagegen wie ein vorzeitiger Vertreter des Sturm und Drang, von dessen Zerrissenheit sich das finale Allegro mit souverän-virtuosem Impetus nachhaltig distanziert.

Dass Vivaldi mit seinen Violinkonzerten in Venedig keineswegs isoliert dastand, dort aber andererseits das römische Vorbild Corellis ebenfalls seine Wirkung entfaltete, zeigen die Werke von Tomaso Albinoni, einem sieben Jahre älteren Kollegen. Albinoni machte die Musik nie vollständig zu seiner Profession; um eine Lehrerstelle an einem der Ospedali bewarb er sich offenbar nur einmal, im Alter von mehr als 70 Jahren, und das vergeblich. Der älteste Sohn eines Spielkartenherstellers und Teilhaber an dessen Manufaktur erregte aber seit 1694 immer wieder Aufmerksamkeit als Opernkomponist und als Meister auf der Violine. Im Jahr 1700 erschienen beim Verleger Giuseppe Sala in Venedig Albinonis Sinfonie e concerti a cinque op. 2, in denen er bereits eine schlüssiges Konzept entwickelt hatte, virtuose Episoden für eine Violine aus dem Gesamtensemble hervorzuheben. Bei eher episodenhaftem Solospiel belässt er es – offenbar unbeeindruckt von Vivaldis Beispielen – auch noch in seinen späteren Werken. So verzichtet er im ersten der zwölf Concerti a cinque op. 10, die 1735/36 bei Michel-Charles Le Cène in Amsterdam gedruckt wurden, vollkommendarauf, den Violino principale solistisch einzusetzen. Dieses Concerto B-Dur erweist sich als vierstimmige Ensemblekomposition mit drei kurzen, aber effektvoll kontrastreichen Sätzen.

Mit Baldassare Galuppi stellt das heutige Konzert noch einen venezianischen Musiker vor, den seine Karriere auch nach London brachte. Er gehört zu einer jüngeren Generation, die in der Lagunenstadt neue musikalische Ideen entwickelte. In den 1720er Jahren machte der noch junge Galuppi vor allem als Opernkomponist Karriere; 1740 wurde er maestro di coro amOspedale dei Mendicanti. Die folgenden drei Jahre brachten dann ein Engagement am Londoner Haymarket Theatre in der Nachfolge Georg Friedrich Händels, und gut zwei Jahrzehnte später wirkte er wiederum drei Jahre lang als Hofkomponist der Zarin Katharina II. in St. Petersburg. Vor allem war Galuppi seit der Jahrhundertmitte aber am Markusdom in Venedig als Vizekapellmeister und später als Kapellmeister angestellt, außerdem seit den 1760er Jahren als maestro di coro am Ospedale degl’ Incurabili. Dass man Galuppis Musik in ganz Europa schätzte, liegt wohl vor allem daran, dass er eine neue musikalische Sprache fand, ohne sich von den musikalischen Ideen der älteren Generation zu verabschieden. Das zeigt sich auch in seinen vergleichsweise wenigen Instrumentalwerken. So verbindet sich in seinem feinsinnigen Concerto a 4 g-Moll barocke Kontrapunktik mit einer galant-lyrischen Eleganz. Schon im ersten Satz, einem filigranen Grave, kleidet Galuppi die strenge Satzkunst in ein empfindsames Gewand. Ähnlich delikat gestaltet er den spritzigen zweiten Satz. Schließlich mündet das Werk in ein tänzerisches Allegro, das durch seine duftige Transparenz besticht.

Die venezianischen Ospedali war keineswegs nur Pflegestätten des Violinspiels. Dass einige der jungen Virtuosinnen dort auch auf Blasinstrumenten wie Oboe, Chalumeau, Block- und Traversflöte oder auf Zupfinstrumenten wie Laute und Harfe zu hervorragenden Leistungen fähig waren, zeigen schon die Solo-Konzerte, die Vivaldi für diese Instrumente schrieb. Darin erinnert die Aufführungsweise von Concerto Köln, wenn zum Streichersatz gelegentlich zwei Traversflöten und Fagott hinzutreten. Lorenzo Alpert, der Fagottist des Ensembles, hat sich da bei der Instrumentierung nicht zuletzt vom Vorbild Francesco Geminianis leiten lassen. Da strahlt also gewissermaßen London auf Venedig zurück.

behe

Mitwirkende

Concerto Köln