Saison 2000/2001: Konzert 2

Sonntag, 22. Oktober 2000 17 Uhr Sendesaal des Deutschlandfunks

Concerti da camera

Dorothee Oberlinger - Blockflöte Alexander Puliaev - Cembalo Orchestra Van Wassenaer Den Haag Leitung Makoto Akatsu Sendung beim Deutschlandfunk am 31.10.2000

Die italienische Musik bewirkte in der europäischen Kulturgeschichte Vergleichbares wie die niederländische Malerei. Beide schufen richtungsweisende Vorbilder, Muster und Modelle, die oft kopiert, aber selten erreicht wurden. Wenig bekannt ist, dass eine repräsentative Musikgeschichte des 16. bis 18. Jahrhunderts geschrieben werden könnte, die ihre Quellen allein in niederländischen Musikdrucken hat. Immer das Neueste, immer das Beste haben die holländischen Nachbarn aus der europäischen Musik in Sammelwerken gedruckt. Vivaldis elegante Concerto-Kompositionen erfreuten sich schon zu seinen Lebzeiten in den Niederlanden größter Beliebtheit. Und wen mag es erstaunen, wenn die tonangebenden niederländischen Komponisten der Zeit wie van Wassenaer, Heinsius und Lentz das italienische Vorbild nicht nur bestaunten, sondern selbst zahlreiche Werke im damals modernen Stil schufen, die neben Kompositionen Vivaldis von der Flötistin Dorothee Oberlinger und dem Orchestra Van Wassenaer interpretiert werden.

Programmfolge

Michael Ernst Heinsius (1720-1782)
Sinfonia D-Dur op. 2,1
für Cembalo, 3 Violinen, Viola und Violoncello
Allegro, Andante, Vivace

Antonio Vivaldi (1678-1741)
Concerto g-Moll op. 10,2 RV 439 ("La Notte")
für Altblockflöte, Streicher und Basso continuo
Largo, Presto (Fantasmi), Largo, Presto, Largo (Il Sonno), Allegro

Nicolaas Lentz (1720-1782)
Concerto II C-Dur
für Cembalo, 3 Violinen, Viola und Violoncello
Allegro, Adagio-Affectuoso, Tempo di menuetto

Antonio Vivaldi
Concerto G-Dur RV 312
für Flautino, Streicher und Basso continuo
(Rekonstruktion: Jean Cassignol)
Allegro molto, Larghetto, Allegro

Pause

Antonio Vivaldi
Concerto D-Dur RV 84
für Altblockflöte, Violine und Basso continuo
Allegro, Andante (Cantabile), Allegro

Wilhelm van Wassenaer (1692-1766)
Concerto armonico I G-Dur
für 4 Violinen, Viola, Violoncello und Basso continuo
Grave-Allegro, Un poco andante, Allegro

Antonio Vivaldi
Concerto D-Dur op. 10,3 RV 428 ("Il Gardellino")
für Flautino, Streicher und Basso continuo
Allegro, Cantabile, Allegro

Niederländische Concerti, importiert und hausgemacht

Er gilt als entscheidender Wegbereiter der Gattung des Solokonzerts; die später "klassisch" gewordene Satzstruktur von alternierenden (Orchester-)Ritornellen und Solopassagen geht eindeutig auf ihn zurück: Antonio Vivaldi. Seine Karriere am Ospedale della Pietà zu Venedig, einem Konservatorium zur Erziehung verwaister Mädchen, lässt sich noch heute anhand von Verwaltungs- und Kassenbüchern im Archivo di Venezia genau nachvollziehen - sein Aufstieg vom "maestro di violino" zum "maestro de' concerti", zu dessen Aufgaben unter anderem die Leitung aller öffentlichen Sonn- und Feiertagsaufführungen des Ospedale gehörte. Hier dürften auch viele seiner heute Nachmittag vorgestellten Konzerte erklungen sein. Vivaldi, der als Virtuose auf der Violine zu Lebzeiten eine große Bekanntheit erlangt hatte, war auch wegen seiner Kompositionen in ganz Europa gefragt: Johann Joachim Quantz, Flötenlehrer Friedrichs II. von Preußen, Johann Georg Pisendel, sächsischer Komponist und Geigenvirtuose, und nicht zuletzt Johann Sebastian Bach (um nur einige zu nennen) haben Vivaldis Musik studiert, abgeschrieben oder bearbeitet, um ihren eigenen Kompositionsstil daran zu entwickeln. Die dreisätzige Form der Sonata da camera, die alle im Programm vertretenen Konzerte Vivaldis aufweisen, wurde bald zum europäischen Standard erhoben.

Amsterdam um 1729: Die Musikverlage haben bereits ausgiebig vom Ruf Antonio Vivaldis in den Ländern des Nordens profitiert. In dieser Situation vertraut Vivaldi dem Verleger Michel le Cène den Druck einer Notenausgabe an: Fünf der sechs Concerti sind Bearbeitungen früherer Versionen, die wahrscheinlich für das Ospedale della Pietà geschrieben worden sind. Die Instrumentalpartien, einst für Oboe, Fagott oder Geige bestimmt, werden hier unter den Streichern aufgeteilt, ein Bratschenpart hinzugefügt und der Aufbau der Concerti verändert, meist gestrafft. Das zweite Concerto RV 439 der Sammlung op. 10 trägt den Titel "La Notte" ("Die Nacht"), das dritte Concerto RV 428 ist "Il Gardellino" ("Der Distelfink") überschrieben. Man kann in beiden Konzerten anekdotische Leitlinien entdecken - subtile Gegensätze der Leidenschaften, Affektwechsel und Melodielinien im Opernstil en miniature. "La Notte" hüllt uns in ihre beunruhigende, geheimnisvolle Stimmung, dann tanzen Gespenster ("Fantasmi") ein wildes Bacchanale um uns, und schließlich fallen wir in einen unruhigen Schlaf ("Il Sonno"), der bald von einem Alptraum unterbrochen wird. Vor allem "Il Gardellino" erinnert an Vivaldis programmatischen Ansatz in den "Vier Jahreszeiten". Bereits der Einsatz der hohen Blockflöte ist Programm; welches andere Instrument wäre prädestiniert, den Gesang eines Vogels zu imitieren? Im ersten Satz führen Trillerketten, gebrochene Akkorde und Repetitionen das "Schlagen" des Singvogels geradezu plastisch vor Augen, der langsame Satz wird zur Liebesklage des Distelfinks, die in ihrer poetischen Innigkeit zu den intimsten Stücken Vivaldis zählt.

Für den "flautino" - was nichts anderes heißt als "kleine Blockflöte" - sind von Vivaldi drei Konzerte (zwei in C und eines in a) überliefert. Welchen Grundton und welche Lage diese Flöte hatte, ist bis heute umstritten. Wahrscheinlich aber handelt es sich beim Flautino um eine Sopranino-Blockflöte in f. Bereits in den frühen 1990er Jahren hat der Vivaldi-Forscher Roger Claude-Travers auf das Concerto RV 312 aufmerksam gemacht, ein gängigerweise als Violinkonzert gehandeltes Werk. Das Studium der autographen Handschrift birgt indes einige Überraschungen: Offenbar unschlüssig, für welches Instrument er sein Concerto schreiben wollte, hat Vivaldi im Titel die Besetzungsangaben mehrere Male durchgestrichen und überschrieben. Mit einiger Mühe lässt sich neben "violino" auch das Wort "flautino" herauslesen, ein Umstand, der im Verlauf des ersten Satzes seine Entsprechung darin findet, dass an diversen Stellen Alternativ-Fassungen für die Solostimme ausgeschrieben sind - wahlweise für Violine oder Flautino. Der französische Musikwissenschaftler und Blockflötist Jean Cassignol hat nun in eigener Edition auch die beiden weiteren Sätze des Konzerts für Blockflöte eingerichtet - vergleichbare Bearbeitungen von Violinpartien für die Blockflöte finden sich bereits im 18. Jahrhundert. Die Ecksätze des Konzerts, von denen der erste den Zuhörer in die Atmosphäre eines bäuerlichen Festes hüllt, enthalten halsbrecherische Soli (Arpeggien, große Sprünge, Triolen etc.) von ähnlicher Virtuosität wie in den drei anderen Flautino-Konzerten. Vivaldis Concerti sind ein Sammelbecken für die unterschiedlichsten Besetzungen - "Concerto" als Formbegriff (concertare=wettstreiten) ist bei Vivaldi durchaus auch Überbegriff für kleinere Besetzungen ohne Orchester. Das mit Reminiszenzen an den Dresdner Stil komponierte Concerto RV 84 für Violine, Altblockflöte in g und Basso continuo gehört zu diesen kleinen Besetzungen. Die Authentizität des in der Sächsischen Landesbibliothek Dresden aufbewahrten Werks ist allerdings nicht ganz gesichert: Das Concerto ist als nicht autographe Kopie ohne namentliche Nennung Vivaldis erhalten.

Den Haag 1740: Der Geiger Carlo Ricciotti veröffentlicht sechs Concerti armonici, die sich bald großer Beliebtheit erfreuen. Da der Druck den Komponistennamen verschweigt, werden die Werke bald Ricciotti selbst (so in einem Londoner Raubdruck von Walsh), bald Giovanni Battista Pergolesi oder Georg Friedrich Händel zugeschrieben. 1980 erst gelang es dem niederländischen Musikwissenschaftler Albert Dunnings nach einem Hinweis seines Kunsthistoriker-Kollegen Wouter van Leeuwen, den wirklichen Autor der Concerti anhand des Originalmanuskripts zu identifizieren: den holländischen Grafen Unico Wilhelm van Wassenaer, der sich zunächst ausgiebig der Musik gewidmet hatte, bis er in der zweiten Hälfte des 1740er Jahre von Den Haag aus bedeutende diplomatische Missionen übernahm. Widmungsträger der Werke ist Graf Willem Bentinck, ein Jugendfreund, der gemeinsam mit van Wassenaer in den 1720er Jahren regelmäßig montags musikalische Soireen veranstaltete, die abwechselnd in den Anwesen der beiden Adeligen in Den Haag stattfanden, unter Beteiligung weiterer Musikliebhaber ("Es gab viel Musik, viel Tee und Kaffee", berichtet van Wassenaers Bruder Johan Hendrik). In diesen Rahmen fügen sich die Concerti mit ihrer zwischen Kammer- und Orchestermusik angesiedelten Ensemble-Besetzung aus vier Violinen, Viola, Violoncello und Basso continuo trefflich ein, die van Wassenaer nach eigenen Angaben zwischen 1725 und 1740 komponierte. Ihr spätbarocker, dabei sehr individueller Stil spiegelt seine Vorlieben sowohl für die französische als auch für die italienische Musik seiner Zeit. Beide Musikrichtungen hatte er zunächst während der Gesandten-Tätigkeit seines Vaters am Düsseldorfer Hof des kunstfreudigen Kurfürsten Johann Wilhelm von der Pfalz (1707-09), dann auf seiner standesgemäßen Kavalierstour bei Aufenthalten in Paris und den Zentren Italiens 1717/18 auch aus der Nähe kennen gelernt.

Aus einem ähnlichen, im bürgerlichen Collegium musicum vereinigten Lieberhaberkreis scheinen die Ensemblewerke von Heinsius und Lentz hervorgegangen zu sein - Werke von Künstlern, deren Biographie heutzutage nicht nur im Vergleich zur Vita des Grafen Wassenaer allzu fragmentarisch überliefert ist. Von Nicolaas Lentz ist weder sein definitives Geburtsjahr noch sein Geburtsort bekannt; er könnte aus Antwerpen, aber auch aus Deutschland stammen. Einen Großteil seines Lebens verbrachte er jedenfalls in Rotterdam, wo er einen Weinhandel betrieb, als Organist wirkte und 1782 starb. Von seinen Kompositionen sind heute drei Cembalo-Konzerte und eine Sonate für Violine und Cembalo bekannt, deren Solostimme allerdings verschollen ist. Als "Concerti a sei Stromenti" erschienen zwei seiner Cembalo-Konzerte ca. 1750 bei Alexis Magito in Rotterdam in Druck. Wie das Concerto II beispielhaft zeigt, folgen die beiden Werke jener Praxis des "Concert avec plusieurs instruments", die der Spielfreude von Liebhaber-Ensembles entgegenkommt, indem sie etwa auch der ersten Violine solistische Episoden gewährt.

Wie Lentz wirkte auch der vermutlich aus Hulst stammende Michael Ernst Heinsius als Organist, so in Nijmegen, Bergen op Zoom und Arnheim. In den beiden Rheinstädten leitete er jeweils auch ein Collegium musicum. Die Titelformulierung empfiehlt seine in Amsterdam bei Johann Julius Hummel um 1760 edierten "Six simphonies pour ceux qui apprennent la musique" den Lernbegierigen; die technischen Ansprüche der Werke fordern allerdings ein versiertes Ensemble. So mag die Sinfonia I den tatsächlichen oder von Heinsius gewünschten Qualitätsstandard seiner Collegia musica widerspiegeln.

Dorothee Oberlinger

Mitwirkende

Das Orchestra Van Wassenaer unter der Leitung von Makoto Akatsu spielt heute in folgender Besetzung

Dorothee Oberlinger - Blockflöte
Makoto Akatsu, Rachael Beesley, Izumi Satho, Marika Holmquist - Violine
Mika Akiha - Viola
Bas van Hengel, Elisa Joglar - Violoncello
Alexander Puliaev - Cembalo (Kopie nach flämischen Vorbildern von Burkard Zander 2000)
Thomas Boysen - Theorbe