Saison 2000/2001: Konzert 7

Sonntag, 29. April 2001 17 Uhr Sendesaal des Deutschlandfunks

La Cremona

Italienische Violinmusik des 17. Jahrhunderts Werke von Antonio Vivaldi, Giuseppe Torelli, Antonio Caldara u.a. Musica Antiqua Köln

Silbrige Streicherklänge, sensibel gezeichnete Melodielinien, ätherische Klänge und mitreißende Interpretationen sind nur einige Merkmale der Interpretationen des Ensembles Musica Antiqua Köln unter der Leitung von Reinhard Goebel. Trotz der Vielfalt der Programme liegt ein Schwerpunkt der Arbeit des Ensembles auf der Streichermusik, ein Akzent, der auch dieses Programm bestimmt. Mit der Durchsetzung der Violine gegenüber älteren Instrumententypen entwickelte sich um 1600 ein Genre von Kompositionen für drei und mehr Violinen. Die lombardische Stadt Cremona, übrigens die Heimat der berühmtesten Geigenbauer, gibt nicht nur dem Programm seinen Namen, sondern findet sich auch als Titel von Kompositionen dieses Typus zwischen 1600 und 1720. Giovanni Gabrieli, Giovanni Legenzi, Giuseppe Torelli und Antonio Vivaldi sind nur einige Komponisten, deren Werke dieses Genres den repräsentativen Bogen im Konzert ausfüllen.

Programmfolge

Biagio Marini (1587-1663) Passacaglia g-Moll für drei Violinen und Basso continuo Giovanni Battista Fontana (gest. ca. 1630) Sonata C-Dur für drei Violinen und Basso continuo Johann Heinrich Schmelzer (1620-1680) Sonata D-Dur für drei Violinen und Basso continuo Nicola Matteis (gest. ca. 1707) Ground d-Moll für drei Violinen und Basso continuo Henry Purcell (1659-1695) Pavane g-Moll & Fantasia "Three upon a ground" D-Dur für drei Violinen und Basso continuo Antonio Vivaldi (1678-1742) Sonata "la Follia" d-Moll für zwei Violinen und Basso continuo Pause Antonio Caldara (1670-1736) Chaconne B-Dur für zwei Violinen und Basso continuo Johann Joseph Fux (1660-1741) Sonata F-Dur für drei Violinen ohne Bass Giuseppe Torelli (1658-1709) Sonata D-Dur für drei Violinen, Violoncello und Basso continuo

Zu dieser Aufführung

Das italienische Früh- und Hochbarock ist beileibe nicht nur die Zeit jener klingelnden Terzen-Kaskaden im halligen Kirchenraum, jener al fresco dahin geworfenen Sonaten mit immer noch süßen Dissonanzen - sondern auch eine Zeit rastlosen Suchens! In Dresden und Wien hatten sich früh (sicher seit 1650) streng organisierte Sonaten-Typen mit satter Klanglichkeit im Äußeren und meisterhafter Satzkunst im Inneren etablieren können. Als "imperial" verstanden und rezipiert, wurden sie in jeder noch so kleinen Residenz nachgeahmt - aber in Italien offenbar nicht goutiert: Eigenartig, neu und extravagant zu sein, war die Devise der Komponisten in den beinahe zahllosen italienischen Stadtstaaten. Und so finden wir in den Druckwerken der Zeit neben den sattsam bekannten Dutzendwaren in Terzenseligkeit "a due violini" immer wieder rätselhafte Kompositionen, die dem Schönklang abhold sind, formales und kompositorisches Neuland beschreiten - und manchmal auch irr und wirr und schlicht erfolglos sind. Fast könnte man glauben, dass am Ende des Jahrhunderts ein vermutlich unter Zeitdruck und Raumnot stehender venezianischer Komponist mit dem Schrei "Her mit der Kadenz, den Terzenläufen und der Sequenz" entnervt den Löffel in die Suppe geworfen habe. Und damit das Concerto geboren war.

Fraglos waren alle diese Versuche notwendig, um die verschiedenen Parameter, in denen "Musik" abläuft, zu erproben. Auch deutsche Komponisten taten das: Johann Heinrich Schmelzer und Heinrich Ignaz Franz Biber standen mit einigen Werken durchaus an der Schwelle zum Solo-Konzert. Aber noch war die Zeit nicht gekommen, da man im deutschen Sprachraum unter Leopold I. eben grundsätzlich dem "imperialen Stil" huldigte und Neues allenfalls unter der Rubrik "komödiantische Musik" ablegte.

Die Menschen des frühen 18. Jahrhunderts waren anders als wir Heutigen in keiner Weise von sich selbst genügenden historischen Interessen und musealer Duldungsstarre belastet, waren nicht wie wir,obwohl allein an Fortschritt und Innovation glaubend, dennoch in den eigenen Traditionen verwurzelt. Sie waren vom "Concerto" so verzaubert, weil hier mit zwei, drei ruppigen Akkorden und einem griffigen Motiv ein Kräftefeld aufgerissen wurde, das sodann sinnvoll durchgeführt und ausdiskutiert wurde. Allein: alle suchenden "Sonätchen" trugen dazu bei, die Spreu vom Weizen trennen zu lernen. Einmal ist zwar das Motiv erhaben, die Art der Behandlung aber schlecht, dann wieder ist ein belangloses Motiv formal aufgebauscht. An anderer Stelle wieder sind die innewohnenden Kräfte nur unvollständig verarbeitet: "Wie, das war's jetzt?", fragt man sich dann. Zugegeben: Es gibt manche Komposition von Bach, die letztlich ähnlich unorganisch und erfolglos ist. Und im Herauslösungs-Prozess der Romantik aus der Klassik gibt es wieder ganze Komponisten-Œuvres, die wegen der Inkongruenz von Form und Inhalt heute unbekannt sind, damals aber den Zeitgenossen und Nachkommenden Wesentliches mitteilten - und wenn es auch nur die Botschaft war: "So geht es nicht!"

Da in unserer Postmoderne der Ausruf "Ich will so bleiben wie ich bin" das Glaubensbekenntnis ist und "Du darfst" die Antiphon - eben nicht nur das Klassische, das Richtige und Genormte, das Endgültige anerkannt wird -, können wir uns diesen "musikalischen Versuchen" widmen. Mit Erstaunen wird man feststellen, dass manches direkter zu uns spricht, als man das so auf den ersten Blick erwarten möchte. Vor allem in der Besetzung mit drei Violinen kommt der stolze, eitle Aspekt der Violine zum Tragen: Mit zwei Violinen allein ist die Hackordnung klar - hier aber wird die kämpferische Selbstdarstellung noch mit dem Vergrößerungsglas beleuchtet, man stiehlt sich gegenseitig permanent die Schau und fragt den Zuhörer immer wieder en passant, wer der schönste, der beste, ja der schnellste sei... Hier ist die Sonata noch interessanter als das spätere Concerto, hier spürt man noch etwas von der rasend gefallsüchtigen Eitelkeit der exzentrischen Hof-Künstler, denen selbst Könige und Kaiser applaudierten.

Reinhard Goebel

Die Komponisten

Biagio Marini, 1587 in Brescia geboren, findet sich im April 1615 unter den Violinisten, über die Claudio Monteverdi als Kapellmeister an San Marco in Venedig verfügen kann. 1620 nach Brescia zurückgekehrt und in Diensten der Accademia degli Erranti, wechselt er Anfang des folgenden Jahres an den Hof der Farnese in Parma. Zwischen 1623 und 1649 wirkt er als Hofmusiker der Wittelsbacher in Neuburg an der Donau und gelangt auf Konzertreisen u.a. nach Brüssel, Düsseldorf und in seine Heimat. 1649 kehrt er endgültig nach Italien zurück, zunächst nach Mailand, dann nach Ferrara, Vincenza, Brescia und Venedig, wo er 1663 stirbt. Weniger durch seine weltlichen und geistlichen Vokalkompositionen als durch die ausschließlich in Drucken überlieferte Violinmusik ist Marini der musizierenden Nachwelt ein Begriff geblieben.

Alle Hinweise auf das Leben des Giovanni Battista Fontana entstammen dem Vorwort einer einzigen Druckveröffentlichung, der postum in Venedig erschienenen "Sonate a 1. 2. 3. per il violino, o cornetto, fagotto, chitarone, violoncino o simile altro istromento". Demnach stammte Fontana aus Brescia und wirkte später in Rom, Venedig und Padua. Dort starb er 1630. Nicht belegen lässt sich die Vermutung, dass er in Brescia seinen Landsmann Marini auf der Violine unterwies, wenn auch die Gemeinsamkeiten ihres Instrumentalstils nicht zu überhören sind.

Geboren um 1620 im niederösterreichischen Scheibbs, gelang es Johann Heinrich Schmelzer offenbar aufgrund seiner violinistischen Fähigkeiten, Mitte der 1630er Jahre in die kaiserliche Hofkapelle in Wien aufgenommen zu werden. Nach einem Intermezzo als Instrumentalist am Stephansdom wird er am 1. Oktober 1649 offiziell zum Violinisten der Hofkapelle ernannt, 1671 zum Vizekapellmeister. Nur kurz kann er sich - als erster Österreicher - am Kapellmeister-Titel erfreuen. Ende 1679 von Leopold I. ernannt, stirbt er schon im folgenden März in Prag an der Pest, vor der sich der Hofstaat in den Mauern des Hradschins sicherer geglaubt hatte als in der Wiener Hofburg. Von seinem Ruf als berühmtester Violinist seiner Epoche legen seine Sonaten ein beredtes Zeugnis ab.

Über Deutschland war der Neapolitaner Nicola Matteis in den 1670er Jahren nach London gekommen, wo er sich allerdings als exzentrischer Geiger zunächst die Gunst potentieller Mäzene verspielte. Wenn auch später umgänglicher und mit seinem für die Insel so neuartig eloquenten Violinstil erfolgreich, blieb Matteis zeitlebens auf seine kommerziellen Erfolge als freiberuflicher Virtuose und als Herausgeber von eigenen Violinkompositionen und Sololiedern angewiesen. 1695 wird sein Name neben Henry Purcell, Giovanni Battista Draghi und Gottfried Finger im Zusammenhang mit Planungen einer Royal Academy of Music genannt. Die ohnehin nur bruchstückhaft dokumentierte Spur seines Lebens verliert sich vollends nach dem April 1707.

Nur die wenigen Jahre zwischen 1659 und 1695 sind dem Leben des größten englischen Barockkomponisten vergönnt, Henry Purcell. Schon als Knabe in die Chapel Royal aufgenommen, bleibt er im Bannkreis von Westminster in königlichen Diensten, als Sänger, Organist und Komponist. Sein Hofmusikeramt verschafft ihm die Möglichkeit, neben der zeitgenössischen französischen und italienischen Musik auch das kompositorische Erbe der Tudor- und Stuart-Zeit kennen zu lernen. Der polyglotten musikalischen Sprache seiner Kirchen- und Bühnenwerke, besonders aber seiner der einheimischen Tradition verpflichteten Clavier- und Kammermusik verleihen diese melodischen und harmonischen Eigenwilligkeiten Englands ihren besonderen, herben Reiz.

Mit der Veröffentlichung seiner Violinkonzerte op. 3 ("L'estro armonico") im Jahre 1711 in Amsterdam wurde der 1678 in Venedig geborene Antonio Vivaldi zur europäischen Berühmtheit, nicht zuletzt nördlich der Alpen, wo er später auch als gefragter Virtuose auf einer Reise 1741 in Wien starb. Konservativer, noch dem klassischen römischen Vorbild Arcangelo Corellis verpflichtet, hatte er sich da in seinem Opus 1 gegeben, den "Suonate da camera a 3", die 1705 in seiner Heimatstadt erschienen waren - und die Vivaldis Amsterdamer Verleger Estienne Roger ob des Erfolgs von Opus 3 wohl schon 1712 nachdruckte. In der zwölften und letzten der Sonaten gibt Vivaldi aber die Corelli'sche Konvention zugunsten einer Variationen-Folge über das allseits geschätzte, melodisch-harmonisch eingängige "Follia"-Modell auf: ein Raum für Extravaganzen "a tre".

Antonio Caldara, geboren um 1670 in Venedig, im Einflussbereich von San Marco zum Musiker ausgebildet und dort, in Mantua und Rom alsbald ein Oratorien- und Opernkomponist von Rang, zierte sich eine Weile, bis er nach einem ersten Anlauf von 1712 drei Jahre später endgültig in die Wiener Dienste Kaiser Karls III. trat - als Vizekapellmeister neben Johann Joseph Fux, musikalisch und finanziell mindestens ebenso erfolgreich. Caldara starb 1736 in Wien. Marginal erscheint neben dem umfangreichen Vokalwerk die Instrumentalmusik aus seiner Feder: Überliefert sind zwei Sammlungen mit Triosonaten in der Nachfolge Corellis, bereits in seiner venezianischen Zeit 1693 und 1699 im Druck veröffentlicht, eine Handvoll weiterer Kammermusikwerke und instrumentale Vorspiele zu Vokalkompositionen.

Im Vergleich zu seinem Vize Caldara stellt sich das Instrumentalœuvre von Johann Joseph Fux stattlicher dar. Seit 1715 bekleidete der 1660 im steiermärkischen Hirtenfeld Geborene das Amt des kaiserlichen Oberkapellmeisters, bis zu seinem Tod in Wien 1741. Vor seiner Berufung an den Hof hatte Fux, der als Jesuitenschüler in Österreichisch und Süddeutschland, wahrscheinlich auch auf einer Italienreise mehr oder weniger autodidaktisch zum habilen Musiker herangereift war, seit den 1690er Jahren in Wien verschiedene andere Musikerdienste geleistet und sich um die Jahrhundertwende als Stipendiat des Kaiserhauses zu Meisterstudien in Rom aufgehalten. Seine einflussreiche musiktheoretische Schrift "Gradus ad Parnassum", in der er die traditionelle Kontrapunktlehre als Handwerkszeug des angehenden (Kirchen-)Komponisten vorstellt, hat lange den Blick auf den durchaus zeitgemäß komponierenden Musiker Fux verstellt, dessen vokale und instrumentale Kunst weit über das Maß des konventionell Gediegenen hinausragt.

Für Giuseppe Torelli, 1658 in Verona geboren, bildete Bologna den Mittelpunkt seines Musiker-Daseins. Hier wurde er Schüler Giacomo Antonio Pertis, Mitglied der Accademia Filarmonica und Mitglied der Capella musicale an San Petronio bis zu ihrer (finanziell begründeten) Auflösung Anfang 1696. Die folgenden Jahre sehen ihn als reisenden Violinvirtuosen, der sich eine Weile an den markgräflich-brandenburgischen Residenzen in Ansbach und Berlin sowie in Wien aufhält. Mit der Wiedereinrichtung der Bologneser Capella eröffnen sich für Torelli 1701 wieder Möglichkeiten, unter Perti in Bologna zu musizieren. Hier stirbt er auch 1709. Bereits Jahre vor Vivaldis "Durchbruch" gelang es Torelli, die virtuose Violinkunst seiner Sonaten formal schlüssig auf das größer besetzte Concerto zu übertragen und damit auch seine Musikerkollegen nördlich der Alpen zu eigenen Formexperimenten anzuregen.

behe

Mitwirkende

Musica Antiqua Köln spielt heute in folgender Besetzung:

Stephan Schardt - Violine (J. Rogeri, Brescia 1713)
Reinhard Goebel - Violine (Jacobus Stainer, Absam 1665)
Volker Möller - Violine (nach Nicola Amati, Hargrave 1997)
Ariane Spiegel - Violoncello (nach D. Montagnana, Hargrave 2000)
Léon Berben - Cembalo (nach Couchet, Willem Kroesbergen 1996)

Sendetermin

Die Aufzeichnung des Konzertes sendet der Deutschlandfunk am Dienstag, den 8. Mai 2001, in seiner Reihe "Musikforum" um 21.05 Uhr.