Saison 2001/2002: Konzert 6

Sonntag, 17. März 2002 17 Uhr Sendesaal des Deutschlandfunks

The Church's Year

Eine Folge englischer Anthems und Motetten des 17. Jahrhunderts Corona Coloniensis Ltg. Peter Seymour Sendung im Deutschlandfunk am 2.4.2002 In Zusammenarbeit mit dem WDR Köln

Im Jahr 1603 geht mit dem Tod Elisabeths I., Königin von England (seit 1558), nicht nur die Regentschaft der Tudor-Dynastie zu Ende, sondern auch eine kulturelle Blüte, die der Inselstaat in dieser Fülle nicht mehr erreichen sollte. König Jakob I. von England, der Sohn Maria Stuarts (gest. 1625), tritt ein schweres Erbe an, politisch wie kulturell. Der Staat ist kraftlos, die Gesellschaft konfessionell gespalten, die Künstler geben sich melancholisch. Beiden Zeitaltern aber, dem elisabethanischen wie dem jakobäischen ist auch in den Phasen allgemeinen Niedergangs das Idiom prachtvoller Kirchenmusik gemeinsam. Im Unterschied zu ihren berühmten Vorgängern schreiben Weelkes, Gibbons und Jeffreys ihre Kirchenmusik nicht mehr für den katholischen Kultus, sondern für die anglikanische Kirche. Mächtige, breit gelagerte, homophon und polyphon gearbeitete Chöre sind die zentralen Merkmale des englischen Anthem-Stils. Ein unbekanntes Zeitalter mit seinen unbekannten Formen und Klängen ist im Ablauf des Kirchenjahrs zu entdecken.

Programmfolge

Texte und Übersetzungen

Jubilate Deo - George Jeffreys (1610-1685)

This is the record of John (Advent) - Orlando Gibbons (1583-1625)

Hark, shepherd (Weihnachten) - George Jeffreys
Brightest of Days (Epiphanias) - George Jeffreys

When David heard (Passionszeit) - Thomas Weelkes (1575-1623)
O Lord in thy wrath (Passionszeit) - Orlando Gibbons
Almighty and everlasting God (Bußzeit) - Orlando Gibbons
He beheld the city (Bußzeit) - George Jeffreys

Hosanna to the Son of David (Palmsonntag) - Orlando Gibbons

Pause

How wretched is the state (Passionzeit) - George Jeffreys
Whisper it easily (Karfreitag) - George Jeffreys

Rise, heart, thy Lord is risen (Ostern) - George Jeffreys
Gloria in excelsis Deo (Ostern) - George Jeffreys

Look up, all eyes (Christi Himmelfahrt) - George Jeffreys
Have mercy on us, Lord (Pfingsten/Trinitatis) - William Lawes (1602-1645)
A Music Strange (Pfingsten) - George Jeffreys

Alleluia. I heard a voice (Trinitatis) - Orlando Gibbons

Texte und Übersetzungen

Musik aus einer Zeit der Umbrüche

Das Programm des heutigen Konzertes richtet sein Augenmerk auf die geistliche Musik einer kurzen, aber ereignisreichen Epoche in Englands Musik-, Politik- und Sozialgeschichte. Heinrich VIII. hatte die (katholischen) Klöster und damit auch die zugehörigen musikalischen Institutionen aufgelöst; die Folgen waren noch im darauf folgenden 17. Jahrhundert nicht zu übersehen. Das betraf auch die Unsicherheit der Untertanen in Fragen der religiösen Loyalität gegenüber der Monarchie (unter Elisabeth I., Jakob I. und Karl I.) und damit gegenüber der Staatskirche. Nichtsdestoweniger erblühten in ebendieser Zeit Genies wie William Byrd und William Shakespeare. Und nicht zuletzt in musikalischer Hinsicht wurde die erste Hälfte des 17. Jahrhunderts zu einer Zeit des Wandels hin zur "seconda prattica" und zum Barock.

Wie Monteverdis Marienvesper von 1610, so bewegt sich auch die Musik unseres Programms zwischen den sich wandelnden musikalischen Stilen. Orlando Gibbons und Thomas Weelkes kann man als Repräsentanten des älteren, polyphonen Stils ansehen, während George Jeffreys mit seiner stärker solistischen Schreibweise, seinen kühneren Harmonien und seiner Begeisterung für eine in bisher unbekannter Weise textausdeutenden, bildhaften Musiksprache im Wesentlichen das Neue verkörpert. George Jeffreys lebte in turbulenten Zeiten. Geboren um 1610, war er Organist Karls I. während der Zeit des Bürgerkrieges. Doch komponierte er zunächst weltliche Werke, darunter Musik für "masques" (eine originär englische Form des Musiktheaters) und Dramen -- hier fand sich ein Forum, um die modernsten Musikentwicklungen im dramatischen Kontext auszuprobieren. Der geistlichen Musik wandte er sich erst nach der Hinrichtung Karls 1649 zu, als er in die Dienste von Christopher Hatton in Kirby Hall trat, bis zu seinem Tod 1685. Er komponierte "zu jeder der seltenen Minuten, die es seine Verwaltungsaufgaben zuließen". Und doch bewahrte er sich das sichere Gefühl für die dramatische Affektdarstellung und verwandelte die literarisch komplexen Textvorlagen in gefühlvolle Vertonungen von großer Klarheit und Kraft. Er war einer der ersten Komponisten, die einen wirklich barocken Stil in England einführten. Angeregt durch italienische Vorbilder, bediente er sich typischer Formen des "stile moderno", etwa, indem er die Singstimmen durch ein Tasteninstrument begleitete. Doch sind bei ihm auch Elemente von Gesualdos madrigalistischem Stil anzutreffen (ohne dass sich nachweisen lässt, dass er dessen Werke kannte). So hören wir dramatische harmonische Fortschreitungen und Melodien, die sich großer Sprünge und eines weiten Tonumfangs bedienen, neben Abschnitten für zwei oder drei Stimmen im neuen Vokal-Idiom der "seconda prattica" nach Monteverdis Vorbild. Jeffreys Textwahl ist sehr individuell und enthält eine Reihe eigenwilliger Bilder und Gedanken, die in der Folge des Kirchenjahres biblische Erzählungen vorstellen oder kommentieren. Ein geflügeltes Wort besagt, die ideale Textvorlage für eine Vertonung sei "einfach, sinnlich und leidenschaftlich". Dennoch wählen Komponisten oft Texte aus, auf die genau das Gegenteil zutrifft. "How wretched is the state" wirkt zwar konventionell, etwas schwerfällig und altmodisch, doch erscheinen die übrigen von Jeffreys vertonten Vorlagen in vielerlei Hinsicht charakteristisch für eine bestimmte Strömung in der religiösen Dichtung zur Mitte des 17. Jahrhunderts. Alle bedienen sie sich plötzlicher Gedankensprünge, dunkler und manierierter Bilder, die aber doch auf einer logischen Gedankenfolge fußen. Nur der Verfasser von "Rise, heart" ist namentlich bekannt: George Herbert, einer der größten geistlichen Dichter englischer Sprache. In der ersten Strophe seines Gedichts stellt sich der Autor vor, dass er auf die österlichen Geschehnisse reagiert; sein Herz, das sich in Christi Tod und Auferstehung versetzt, antwortet mit großer Freude. In originellerem Gedankengang setzt die zweite Strophe die Laute mit dem Holz des Kreuzes gleich und ihre Saiten mit Christi gestreckten Sehnen; so vermag sie durch den Musiker in angemessenem Ton auf Christi Leiden zu antworten. In der dritten Strophe wird der Heilige Geist als dritte Person der Dreifaltigkeit beschworen, den dritten Part in seiner Musik zu übernehmen; so werde sein Lobgesang als Ganzes durch das Ereignis "geschrieben", das er preise. Dem Esprit dieses Gedichts entspricht eine wunderbare formale Souveränität.

Die anderen Werke, die vielleicht vom Komponisten selbst stammen, zeugen von deutlich geringerer technischer Gewandtheit. "Whisper it easily" beginnt mit der scheinbar natürlichen Reaktion auf ChristiTod -- dass man eben nicht laut davon spricht -, doch dann deutet es die Stille als Zeichen, dass man sich mit der Schandtat der Kreuzigung abfinde; so werde das Schweigen zu einem weiteren Nagel in Christi Leib. Sein Tod mag als Zeichen menschlicher Überlegenheit erscheinen, doch darüber zu sprechen verwandelt ihn in Christi eigenen Triumph. Die Schluss-Pointe ist der von Herberts Gedicht nicht unähnlich: Hier werden das Zerreißen des Tempel-Vorhangs und die Verdunklung der Sonne mit einem zweiteiligen Trauergesang verglichen. Dieser wird durch einen dritten Teil ergänzt: Unser Sündenbekenntnis füllt die Harmonie aus. Ein Kunstgriff nach dem Vorbild Herberts besteht auch darin, dass die Zeile "The song was left imperfect" ("Der Gesang blieb unvollendet") als einzige keinen Reim aufweist. "Look up, all eyes" wirkt weitaus unmittelbarer und schildert, wie die Sterne, die Sonne und die Engel im Erstaunen über die Himmelfahrt Christi verstummen. Das erklärt die Schwierigkeiten der Menschheit, am Himmelfahrtstag Loblieder zu singen, ist sie doch voller Tränen über Christi Scheiden. Die Sprache dieser Dichtung mit ihren Bildern von Sternen auf Knien und einer sprechenden Sonne erweist sich allerdings als recht manieriert.

"A Music Strange" bietet die vielleicht undurchsichtigste dieser Dichtungen. Es beruht auf der Schilderung des Pfingstereignisses in der Apostelgeschichte. Die wundersame Musik ("strange music"), die der Dichter hört, ist der Ton der Apostelstimmen, die in fremden Sprachen sprechen; er erlebt sie zunächst als harmonischen Klang, dann aber als trunkenen Ausbruch (den biblischen Hintergrund bilden die Worte des Petrus: "Denn diese sind nicht etwa betrunken, wie ihr meint, ist es doch erst die dritte Stunde am Tage"). Im folgenden Abschnitt schließt der Dichter aus dem Wohlklang der in den verschiedensten Sprachen redenden Apostel, dass diese universelle Verständigung den Bannspruch Gottes über die Erbauer des Turms zu Babel aufhebt, der die verschiedenen, einander unverständlichen Sprachen begründet hat. Der Turm liegt verwüstet, sogar vom Regen verspottet, der auf ihn fällt; an seiner Stelle haben die Apostel den symbolischen Hügel errichtet, auf dem ein neues Jerusalem entstehen wird. Im letzten Zeilenpaar thematisiert der Dichter die Aktualität, die der biblischen Erzählung zugrunde liegt, denn dort wird Pfingsten als Zeichen der "letzten Tage" gedeutet, und Petrus drängt seine Zuhörer zur Taufe mit den Worten "Lasst euch erretten aus diesem verkehrten Geschlecht!"

Diese Texte bleiben auch nach wiederholtem Lesen schwierig genug zu verstehen, und ihre Komplexität ist beim gesungenen Vortrag den Zuhörern natürlich nicht direkt zu vermitteln. Doch Jeffreys, der vielleicht nach Italien gereist war, sich auf jeden Fall aber viele Werke italienischer Komponisten verschafft hatte, interessierte sich in erster Linie für die kühnen dramatischen Kontraste, die er diesen Dichtungen entnehmen konnte, harmonische, dynamische und stilistische Kontraste, die jener abrupten Gegenüberstellung unterschiedlicher Gefühlszustände entsprechen, von denen die Lyrik geprägt ist. Gleichzeitig hat Jeffreys sein Vergnügen an Detail-Effekten, mit denen er einzelne Begriffe oder Wendungen illustriert. In "Whisper it easily" werden "Tempel" und "Sonne" zwei Sängern anvertraut ("two parts: the temple and the sun"), und in "Rise, heart" singen drei Solisten von den "three parts vied and multiplied" ("part" bedeutet im Englischen gleichzeitig "Teil" und "Partie"). In "A Music Strange" stottern Betrunkene in Sechzehntelnoten, und nach einer langen Generalpause betont Jeffreys den Kontrast des folgenden Abschnitts durch chromatisch dahin schmelzende Harmonien auf die Worte "'tis ravishing" ("es ist hinreißend"). Am beeindruckendsten sind vielleicht die dissonant ins Nichts absteigenden Alt- und Tenor-Linien auf "the song was left imperfect" in "Whisper it easily", die im Gegensatz zum zuversichtlichen Marsch des Schlusschores stehen: "'Tis his will" ("Es ist sein Wille.").

Zu den hervorragendsten der in der anglikanischen Kirche als "anthems" bezeichneten Motetten und Kantaten gehören diejenigen von Weelkes und Gibbons; einige von ihnen wurden tatsächlich über drei Jahrhunderte lang regelmäßig aufgeführt. Die Kompositionen von Thomas Weelkes entstanden wahrscheinlich, nachdem er 1601 oder 1602 das Organistenamt an der Kathedrale von Chichester übernommen hatte. Nach dem hoffnungsvollen Beginn seiner Karriere scheint Weelkes übrigens seine Amtspflichten mehr und mehr vernachlässigt zu haben. Er verbrachte mehr Zeit in guten Wirtshäusern als in der Kathedrale und wurde von seinem Bischof als "bekannter und berüchtigter Gewohnheitstrinker, notorischer Flucher und Gotteslästerer" gemaßregelt. Er starb in London, wo er bei einen Freund zu Besuch war (der kurioser Weise den Namen Henry Drinkwater führte), und wurde dort auch beigesetzt.

Wie seine Zeitgenossen, so komponierte auch Weelkes zwei Arten von Anthems: "verse anthems" mit eigenständiger Orgelbegleitung und vokalen Solopassagen und "full anthems", Chorstücke ohne obligate Begleitung. "When David heard" ist eine ausnehmend schöne und ergreifende Vertonung mit einer Reihe bedeutungsvoller (und moderner) Motive -- so die aufsteigende Sekunde zu Beginn -, eingängiger Melodielinien und Imitationsabschnitte. Der überraschende akkordische Satz des Abschnitts "Absalon, my son" gegen Ende des Stücks wirkt besonders sprechend und dramatisch. Wie Weelkes, so leistete auch Orlando Gibbons seinen bedeutenden und spezifischen Beitrag zur Entwicklung der anglikanischen Kathedralmusik. Als Knabe hatte er im Chor des King's College, Cambridge, gesungen. Von 1599 bis 1606 studierte er an der Universität, wurde zwischenzeitlich, um 1603, Mitglied der Chapel Royal und 1605 deren Organist. Später amtierte er als Hof-Virginalist und Organist von Westminster Abbey. Nur acht seiner "full anthems" sind überliefert, doch zeichnen sie sich durch höchste Qualität aus. "Hosanna to the Son of David" ist ein kraftvoller sechsstimmiger Jubelgesang mit der Besonderheit, dass die Musik des Beginns am Ende zu anderem Text wiederkehrt. Der ebenfalls sechsstimmige Bußgesang "O Lord in thy wrath" stellt eine ergreifende Psalmvertonung dar; der Beginn wird durch expressive Dissonanzen geprägt. Im weiteren Verlauf nutzt Gibbons effektvoll kontrastierende Stimmgruppen, und am Ende steht eine flehentliche Bitte. "Almighty and everlasting God", das u.a. in den "Gostling"-Stimmbüchern von York Minster überliefert ist, beschränkt sich auf vier Stimmen und nimmt durch seine Einfachheit für sich ein. "This is the record of John" gehört zu den berühmtesten "verse anthems". Die instrumentale Begleitung ist für Orgel und/oder Gamben bestimmt. Das Solo des Tenors führt in die Szene ein, die vom Chor aufgegriffen und dann im Wechsel fortgeführt wird. In den Chorteilen besteht ein deutlicher Kontrast zwischen imitatorischer und akkordischer Schreibweise, je nachdem, ob erzählerische Abschnitte oder die Worte Johannes des Täufers und seiner priesterlichen Befrager wiederzugeben sind. Der Solo-Part macht ausdrucksvoll vom gesamten Stimmumfang und den verschiedenen Stimmregistern Gebrauch (z.B. beim Wort "No" am Ende des zweiten Solos; das dekorative Melisma am Ende des ersten Solos auf das Wort "I" versinnbildlicht vielleicht, dass Johannes beim Antworten seine Zunge ein wenig im Zaume halten muss).

William Lawes' Teil-Vertonung des 67. Psalms könnte am Trinitatis-Sonntag 1644 gesungen worden sein, während der Blockade Yorks durch Truppen des Parlaments. Es gibt Berichte, dass man damals in der Kathedrale von York solche "Psalms to Common Tunes" ("Psalmen auf die gebräuchlichen Melodien") sang und dabei aus der Ferne der Kanonendonner zu hören war. Lawes vertont die Psalmverse im Wechsel zwischen continuobegleitetem Solo-Tenor und chorischem Unisono-Vortrag der Liedmelodie. Die ausnahmslos dramatische und bußfertige Stimmung dieses Psalms verdeutlicht den für Lawes typischen Vokalstil: expressive Solo- und Chorpassagen, die eine an italienischen Vorbildern geschulte Deklamation und eine eher lyrische Schreibweise verbindet und dabei Stimmumfang, Chromatik, Dissonanzgebrauch und Harmonik bis an die Grenzen ausschöpft. In der Tat finden sich solche Extreme innerhalb der geistlichen Musik aus dem Zeitalter des Bürgerkriegs sonst nur noch in den Anthems und Motetten von George Jeffreys.

Peter Seymour
(Deutsche Textfassung: behe)

Mitwirkende

Corona Coloniensis
Ltg. Peter Seymour

Die Corona Coloniensis musiziert heute in folgender Besetzung:

Helen Neeves, Rebecca Saunders, Annelies Coene, Judith Cunnold - Sopran
Hugo Naessens, Kate Mapp - Alt
Angus Smith, Jason Darnell, Ibo van Ingen, Paul Gameson - Tenor
Job Boswinkel, Peter Coene - Bass
Robert Howarth - Orgel