Saison 2005/2006: Konzert 1

Sonntag, 25. September 2005 17 Uhr Sendesaal des Deutschlandfunks

Aguirre

»Gottes Zorn« und Lebenslust Los Otros Los Otros: Mitwirkende... Sendung im Deutschlandfunk am 11.10.2005

Los Otros - Die Anderen - könnte als Programm verstanden werden, und das wäre so falsch nicht. Das Ensemble entführt uns mit seiner Musik nach Lateinamerika und damit in eine denkbar andere Welt. Über 100 Werke anonymer Komponisten aus Mexiko, der Karibik, Zentralamerika und Spanien hatte der mexikanische Kopist Sebastián de Aguirre um 1800 in einem Kodex, dem Códice Saldivar Nr. 2, zusammengefasst. Die Notation ist grob und fragmentarisch, so dass bei der Interpretation dieser Werke jede Art von Improvisation von den Ensemblemitgliedern gefordert ist. Das Motto "Gottes Zorn und Lebenslust" steht für einen experimentellen Zugang zur Musik, der einen denkbar großen Freiraum für individuelle und kollektive Gestaltungsmöglichkeiten lässt.

Programmfolge

The Spanish Pavan
Antony Holborne (ca 1545-1602)

La Oleada
Bran a la Cran
Canarios a la Cran

Sebastián de Aguirre (ca 1680-1730)

Morisca Triste
Sebastián de Aguirre

Chiqueador de la Puebla
Sebastián de Aguirre

Canarios
Santiago de Murcia (1682-ca. 1740)
Gaspar Sanz (ca. 1650-ca. 1720)

Folias
Sebastián de Aguirre

Pause

El Coquís
Sebastián de Aguirre

Marizapalos
Santiago de Murcia

Tocotin
Sebastián de Aguirre

Marañones suite:
Intro
Antonio Martín Y Coll (ca.1680 - nach 1734)
El Amor
Santiago de Murcia
Xacaras
Antonio Martín Y coll

Puerto Rico de la Puebla
Hacha
Balona de bailar
Sebastián de Aguirre

Quellen

Sebastián de Aguirre: Códice Saldívar No. 2, Privatsammlung, Mexiko, 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts

Santiago de Murcia: Códice Saldívar No. 4, Privatsammlung, Mexiko 1732

Anthony Holborne: The Cittharn Schoole, London 1597

Gaspar Sanz: Instrucción de música sobre la guitarra española, Saragossa 1674

Antonio Martín y Coll: Flores de música, Madrid 1709

Los Otros Marañones de Aguirre. Notizen aus einer Barkasse voller Piraten

Früher, damals, im alten Jahrtausend: 1999; wir befanden uns auf einer Konzerttournee in Mexiko, da wurden wir bei einem quasi »spontanen" Treffen einer Truppe mexikanischer Musiker vorgestellt. Die Gruppe bestand zum großen Teil aus Volksmusikern aus Vera Cruz, die eine Art Mischung aus ihrem son und spanischer Barockmusik spielten.

Verschiedene Aspekte ihrer Art zu musizieren vereinnahmten uns sofort: Die Gitarren, auf denen diese Musiker spielten, waren unseren »barocken» Gitarren ziemlich verwandt, und einige der Spieltechniken, die sie beherrschten, waren ebenfalls für uns quasi »barock». Der Hauptunterschied zu uns europäischen Barockmusikern schien in erster Linie darin zu bestehen, dass das, womit wir uns hauptsächlich beschäftigen, der Versuch ist, den Klang einer verlorenen Ära wiederzufinden, während das, was diese Musiker von sich gaben, den unverwechselbaren Klang der Wahrheit besaß: Es war kein einstudierter Versuch, es waren einfach gute Musiker, die gute Musik machten. Ein anderer bemerkenswerter Zug ihrer Darbietung war, dass sie keinesfalls nur dem schönen Klang auf etablierte und konventionelle Weise nachjagten, sondern dass sie wirklich Spaß an den Klängen hatten, die den Instrumenten eigen waren, sie integrierten sie einfach in den Ausdruck der Musik. Diese zwei Aspekte des Musikmachens waren für Los Otros von Anfang an ein Teil der Grundidee, der Motivation, der Inspiration.

Wir befreundeten uns dann mit einigen dieser Musiker, wir blieben mit ihnen in sporadischem Kontakt, und einige Zeit später, im Jahr 2002, rief mich Eloy Cruz an, der Lautenist und Koordinator jenes Projekts. Er erinnerte sich, dass ich mich mit Cister-Musik beschäftigte, und fragte, ob ich Interesse hätte, ein Buch mit bis dato unbekannter Cister-Literatur anzuschauen: die metodo de cítara eines gewissen Sebastián de Aguirre. Diese Quelle ist eine der merkwürdigsten in der gesamten Barockliteratur der neuen Welt, und, wie sich herausstellte, obendrein eines der seltsamsten Familienmitglieder in der sowieso schon schrulligen Cister-Literatur. Ich schloss mich mit diesem denkwürdigen Manuskript einige Zeit ein, mit dieser seltsamen und chaotischen – typisch Cister – Ansammlung von Akkordfolgen und Licks für einige Stücke, die wohl die größten Hits der Ära gewesen sein müssen: eine Art Fake Book des 17. Jahrhunderts.

Es gibt überhaupt keine Anhaltspunkte über den Rhythmus der Stücke und überhaupt endlos viele Fehler – typisch Cister. Ich hatte jedenfalls ziemliche Freiheiten dabei, den Sinn und Unsinn dieser Fragmente zu entdecken. Ebenso Los Otros, die ein ziemliches Eskimo-Picknick mit meinen tranigen Aufschlüsselungen veranstalteten. Man könnte sagen, dass diese Arbeitsweise eine radikale Erweiterung der musikalischen Prinzipien ist, wie wir sie mit unserer CD »Tinto» damals begonnen haben: Dieses Picknick hier ist eindeutig mehr session als »Aufführung». Die Stücke existieren als Skizzen; es gibt einige Melodiefragmente, Basslinien, Akkorde, formale Abläufe, andeutungsweise Ideen für Soli. Insofern sind wir dem Manuskript völlig treu geblieben, das auch nichts anderes ist als eine Kiste voller ansatzweiser Ideen, die gerne zusammengefügt werden möchten.

Das übliche Los Otros-Arsenal an Instrumenten (Hilles italienische Killer-Gambe und Steves Klapperschlangen-Gitarre) wird dabei wiederum durch unser Set von Xaranas aus Vera Cruz ergänzt sowie dieses Mal durch die Rekonstruktion einer »mexikanischen Cister», so wie sie in dem Aguirre-Manuskript beschrieben wird und abgebildet ist. Dort kann man den Hals und Wirbelkasten einer Cister sehen, die in a (also eine Quarte höher als die englischen Cistern) gestimmt ist und vier drei(!)-fache Chöre besitzt. Dem Lautenbauer Steffen Milbradt sei Dank, der uns für das Projekt dieses Höllen-Banjo gebastelt hat.

Dies hier ist unsere kleine, private, musikalische Revolution. Wir wollen sie dem Andenken Lope de Aguirres widmen, dem Namensbruder von Sebastián de Aguirre: dem baskischen Konquistador, der 1560 den ersten signifikanten Aufstand gegen die spanische Okkupation Südamerikas und die katholische Kirche initiierte. Zur Zeit dieses Aufruhrs befanden sich diese Leute irgendwo im Nirgendwo Südamerikas, und das seit etwa zwanzig Jahren: auf der Suche nach dem legendären Eldorado (in etwa wie Los Otros heute irgendwo in Europa). Als ihnen klar wurde, dass die spanische Regierung sie niemals aus ihren habgierigen Klauen entlassen würde, auf ihrer aussichtslosen Suche nach mehr Reichtümern, die sie zwar erobern, aber niemals genießen sollten, da wurden sie (und ihre Indios und Sklaven) ernstlich böse. Sie brachten ihre spanischen Aufseher Fernando de Guzmán und Pedro de Ursúa und auch allerlei korrupte Kleriker kurzerhand um. Ihr rebellischer Pfad führte sie auf Flößen den Amazonas-Zufluss Marañón hinunter, daher der Name Marañones. Natürlich wurde der Widerstand schließlich von der Okkupationsmacht gebrochen, die Kleriker taten ihr Bestes, um den Skandal möglichst zu vertuschen. Die Menschen in Süd- und Mittelamerika jedoch vergaßen die Geschichte niemals ganz, sie erzählten sie durch die Jahrhunderte als alten Traum von der Befreiung von dem, dem man unterliegt. In Südamerika wurde sie irgendwann zur Inspiration des großen Befreiers Simón Bolívar. Für uns ist es der Anlass, uns nicht einsperren zu lassen und immer die Verantwortung zu tragen, für das, was wir tun; niemals die Verantwortung jemand anderem oder den Umständen zuzuschieben, falls wir nicht das tun, was wir in diesem Leben wollen.

Wir sollten auch der spanischen Inquisition dafür danken, dass sie so genaue Aufzeichnungen der Tänze und Lieder erhalten hat, die sie als obszön und ketzerisch verboten hatte. Eines dieser Stücke, der Puertorico Chiqueador, ist hier (versteckt) wieder erstanden: Es wurde 1645 verboten, weil eine Prostituierte als Priester verkleidet das Stück tanzte – in einem Konzert in der Magdalenenkapelle der »Herberge für verdorbene Frauen» in Mexico City. Das Lied beschreibt die rührselige Geschichte der Liebe zwischen einem Bischof und einer Hure; es war äußerst populär, anscheinend obendrein wahr und typisch. Die katholische Kirche hat es bis heute nicht für nötig befunden, sich für die Zensur hunderter Musikstücke oder die Gefangennahme (mit gelegentlicher Folter) von Musikern und Tänzern, die diese Stücke aufführten, zu entschuldigen. Deo gratias.

Lee Santana mit hp

Mitwirkende

Los Otros

Hille Perl - Viola da Gamba
Michael Metzler - Percussion
Lee Santana - Mexican Cittern, Theorbe, Jarana
Steve Player - Gitarre, Jarana, Theorbe, Tanz