Saison 2006/2007: Konzert 1

Sonntag, 24. September 2006 17 Uhr Sendesaal des Deutschlandfunks

Der Löwe und der Adler

Venezianische Instrumentalmusik am Kaiserhof Accademia per Musica Ltg. Christoph Timpe, Violine Accademia per musica Sendung im Deutschlandfunk am 3.10.2006

Der kulturelle Nachholbedarf der Deutschen Länder nach den Verwüstungen des Dreißigjährigen Krieges war enorm. Unter dem Kunst und Musik beflissenen Kaiser Leopold I., sorgten italienische Maler, Architekten und Komponisten schnell für den prachtvollen Aufschwung. Das Programm stellt drei Komponisten der venezianischen Schule vor, die mit dem Wiener Hof in Verbindung standen. Es sind Streicher-Sonaten von Antonio Bertali, Massimiliano Neri und Giovanni Legrenzi, die farbig, rhythmisch markant und bisweilen raffiniert polyphon angelegt sind. Als Bonbon spielt Timpe mit der römischen »Accademia per Musica« ein Violinkonzert aus der Sammlung »LaCetra« von Antonio Vivaldi, die Vivaldi 1728 Kaiser Karl VI. persönlich überreicht und geschenkt hatte.

Programmfolge

Antonio Bertali (1605-1669)

Sonata d-Moll
für 2 Violinen, 2 Violen, Viola da gamba und Basso continuo

Massimiliano Neri (ca. 1615-nach 1670)

Sonata V g-Moll
für 2 Violinen, Viola und Basso continuo
aus: Sonate da sonarsi con varij stromenti a tre sino a dodeci op. 2, Venedig 1651

Giovanni Legrenzi (1626-1690)

Sonata VI e-Moll
für 2 Violinen, Viola und Basso continuo
aus: La Cetra, Sonate a 2-4, libro quarto op. 10, Venedig 1673

Antonio Bertali

Sonata XI g-Moll
für 2 Violinen, Viola da gamba und Basso continuo
aus: Prothimia suavissima, 1672

Pause

Giovani Legrenzi

Sonata II e-Moll
für 2 Violinen, Viola und Basso continuo
aus: La Cetra,, Venedig 1673

Sonata IV C-Dur
für 2 Violinen, Viola und Basso continuo
aus: La Cetra,, Venedig 1673

Antonio Vivaldi (1678-1741)

Konzert C-Dur RV 189
für Violine, Streicher und Basso continuo

Der Löwe und der Adler

Von den Verwüstungen des Dreißigjährigen Krieges erholten sich die deutschen Länder nur langsam; vielfach war die demografische und wirtschaftliche Depression erst zu Beginn des neuen Jahrhunderts wirklich überwunden. Entsprechend groß war nach 1650 auch der kulturelle Nachholbedarf. Die Kunst des italienischen Barock setzte an den katholischen Höfen den Maßstab, italienische Maler, Architekten und Musiker sollten für standesgemäße Lebensformen sorgen. Die Kaiser Ferdinand III. (1608-1657) und Leopold I. (1640-1705) waren selbst hervorragende Musiker und boten gerade italienischen Komponisten eine großzügige Patronage.

»Der Löwe und der Adler«, das steht im heutigen Konzert für Komponisten der venezianischen Schule, die mit dem Habsburgerhof in Verbindung standen. Für viele von ihnen wurde Wien zum Brennpunkt ihrer Karriere. Dem Violinisten Antonio Bertali, 1605 in Verona geboren und dort auch musikalisch ausgebildet, fielen schon bald nach seiner Ankunft in Wien Mitte der 1620er Jahre kompositorische Aufgaben zu; das früheste nachweisbare Werk ist eine Kantate von 1631 für die Hochzeit Ferdinands III. Nach dem Tod Giovanni Valentinis wurde er im Oktober 1649 zum Hofkapellmeister ernannt, der neben Kirchenmusik zunehmend auch Opern und Oratorien zu komponieren hatte. Ebenso blieb er aber für die kaiserliche Instrumentalmusik zuständig. In theatralischer Pracht präsentiert sich eine Reihe seiner mehrchörig mit Saiten- und Blasinstrumenten besetzten Sonaten, die nur handschriftlich überliefert sind. Bertalis einzige Druckveröffentlichung Prothimia suavissima (»Süßestes Vergnügen») von 1672 beschränkt sich dagegen auf bis zu vierstimmige Kompositionen; eine aufwändigere Besetzung hätte wohl auch wenig Käufer gefunden. Natürlich berücksichtigte Bertali, dessen künstlerische Individualität in manch bizarrer Gestaltung von Melodie und Harmonie ihren Ausdruck fand, in seinen kammermusikalischen Werken die Vorlieben seiner Gambe spielenden Dienstherren.

Ebenfalls aus Verona stammten die väterlichen Vorfahren des Organisten Massimiliano Neri. Er selbst wurde aber wohl in Neuburg an der Donau geboren, wo sein Vater damals in Diensten des Pfalzgrafen Wolfgang Wilhelm stand. Neri kam schon in jugendlichen Jahren nach Venedig in die Obhut des Mäzens Giacomo Soranzo, der für seine Ausbildung sorgte und vielleicht auch dafür, dass sein Schützling im Dezember 1644 zum Organisten am Markusdom ernannt wurde. Im April 1651 ließ sich Neri für drei Monate beurlauben, vermutlich, um in Wien sein Ferdinand III. gewidmetes Opus 2, die Sonate da sonarsi con varij stromenti, persönlich zu überreichen. In diesen Kompositionen tat es Neri dem Kapellmeister Bertali nach, mal in der Vielchörigkeit, mal, wie in der heute zu hörenden Sonata V, im konzertanten vierstimmigen Satz, der sich durch eine progressive, modulationsfreudige Harmonik auszeichnet. Nicht ohne Erfolg: Neri wurde vom Kaiser geadelt und erhielt aus der Hand Bertalis eine goldene Kette. Eine weitere Beurlaubung im April 1664 nutzte er dann, um nach Bonn zu reisen. Dort hatte seit 1625 sein Onkel als Musiker in der Hofkapelle des Kölner Kurfürsten gewirkt, und dort blieb auch Massimiliano als Hoforganist und Kapellmeister, nachweislich bis Ende September 1670 und vermutlich bis zu seinem Tod.

In Venedig ließ sich der nahe Bergamo geborene Giovanni Legrenzi spätestens 1670 nieder. Zuvor hatte er bereits in der Lagunenstadt als freischaffender Opernkomponist Erfolge feiern können und damals wohl schon zwei der Sonaten komponiert, die er dann 1673 veröffentlichte, in seiner Leopold I. gewidmeten Sammlung La Cetra (»Die Kithara« – das Saiteninstrument des Orpheus). Diese beiden Sonaten zeichnen sich durch einen vergleichsweise altertümlichen Stil aus und mögen aus dem Jahr 1665 stammen, als sich Legrenzi vergeblich am Kaiserhof um eine Anstellung bewarb, anlässlich der Aufführung einer seiner Opern dort. Legrenzi setzte offenbar zu stark auf den vermeintlich konservativen kaiserlichen Geschmack: Sein Stil ist ausgesprochen subtil, eine raffinierte Mischung aus modaler und tonaler Denkweise, und vielleicht ein wenig kopflastig. Möglicherweise hörte der Kaiser eine ordentliche Battaglia oder die virtuosen Extravaganzen eines Bertali doch lieber.

Auf die nachfolgende Generation übte Legrenzis fortschrittliche, harmonische Motivbildung gleichwohl einen großen Einfluss aus. So wird selbst Antonio Vivaldi unter seine Schüler gerechnet, obwohl er gerade einmal zwölf Jahre alt war, als Legrenzi 1690 starb, inzwischen im Amt des Kapellmeisters an San Marco. Knapp drei Jahrzehnte später widmete Vivaldi, nun ein berühmter maestro di concerti des Ospedale della Pietà in seiner Heimatstadt Venedig, Karl VI. mehrere Konzerte. Die trugen wiederum den Sammel-Titel La Cetra, und das gleich zweifach: Nach Vivaldis Druckveröffentlichung von 1727 und wohl anlässlich einer Begegnung mit dem Kaiser 1728, der ihn mit Geld und Ruhm bedachte (aber nicht mit einer Anstellung am Hof), entstand die gleichnamige, aber inhaltlich abweichende handschriftliche Sammlung, der auch das heute zu hörende Werk entnommen ist. Die alten Diskussionen um Modalität und Tonalität, Canzona oder Sonata, ja selbst um den Status der Instrumentalmusik als eigenständiger Gattung sind hier längst vergessen, eine Art Globalisierung hat eingesetzt und unterwirft Form und Ausdruck einer zunehmenden Standardisierung.

Bertali, Neri, Legrenzi und Vivaldi: Sie alle gingen in je eigener Weise auf die künstlerischen Umstände ihres Auftraggebers ein, ohne dabei aber ihre venezianische Identität einzubüßen. Noch heute wird der Hörer seine Freude haben an der raschen Abfolge der markanten Motive und an der aufwändigen Vielstimmigkeit. Der Fachmann wird überdies erkennen, wie diese Meister ihre »moderne« Kompositionstechnik dem eher konservativen kaiserlichen Auftraggeber zuliebe in ein reiches polyphones Gewand kleideten.

Christoph Timpe/behe

Mitwirkende

Accademia per Musica
Ltg. Christoph Timpe

Die Accademia per Musica spielt in folgender Besetzung:
Christoph Timpe - Violine
Gabriele Politi - Violine
Pietro Meldolesi - Viola
Silvia Colli - Viola, Violine
Andrea Fossà - Violoncello
Gabriele Palomba - Theorbe
Cristiano Contadin - Viola da gamba, Violone
Anna Fontana - Orgel, Cembalo