Saison 2006/2007: Konzert 4

Sonntag, 17. Dezember 2006 17 Uhr Sendesaal des Deutschlandfunks

Mozart, Messe c-Moll KV 427

in der Vervollständigung von Robert Levin Chorus Musicus Das Neue Orchester Ltg. Christoph Spering Christoph Spering Gefördert von der SK Stiftung Kultur Sendung im Deutschlandfunk am den 26.12.2006

Die Kirchenmusik nimmt in Mozarts Schaffen zwar nur einen vergleichsweise geringen Raum ein. Doch mit dem »Requiem« und der c-Moll-Messe KV 427 hat er zwei unvergleichliche Meisterwerke hinterlassen - wenngleich beide fragmentarisch. Glücklicherweise konnte der berühmte Mozart-Forscher Robert Levin nun anhand von Skizzen, Fragmenten und Entwürfen Mozarts aus dem zeitlichen Umfeld der c-Moll-Messe eine Version erstellen, wie Mozart sie sich in den Jahren 1782/83 vorgestellt haben mag. Als Höhepunkt im ausklingenden Mozart-Jahr 2006 führt Christoph Spering die rekonstruierte Messe im historischen Aufführungsstil nun zum ersten Mal auf.

Programmfolge

W. A. Mozart
Messe c-Moll KV 427
in der Vervollständigung von Robert Levin

Kyrie
KyrieChristeKyrie
(Sopran, Chor) · Andante moderato

Gloria
Gloria in excelsis Deo
(Chor) · Allegro vivace
Laudamus te
(Sopran 2) · Allegro aperto
Gratias
(Chor) · Adagio
Domine
(Sopran 1 und 2) · Allegro moderato
Qui tollis
(Doppelchor) · Largo
Quoniam
(Sopran 1, 2, Tenor) · Allegro
Jesu Christe
(Chor) · Adagio
Cum Sancto Spiritu
(Chor) · Alla breve

Pause

Credo
Credo in unum Deum
(Chor) · Allegro maestoso
Et incarnatus est
(Sopran 1)
Crucifixus
(Chor)
Et resurrexit
(Chor)
Et in Spiritum Sanctum
(Tenor)
Et unam sanctam
(Chor)
Et vitam venturi
(Chor)

Sanctus
Sanctus
(Doppelchor) · Largo
Hosanna in excelsis
(Doppelchor) · Allegro comodo

Benedictus
Benedictus – Hosanna in excelsis
(Soli, Doppelchor) · Allegro comodo

Agnus Dei
Agnus Dei
(Sopran 2, Chor) · Andante
Dona nobis pacem
(Soli, Chor)

Wege zur Komplettierung eines berühmten Kompositions-Torsos

In einem Brief an seinem Vater vom 4. Januar 1783 erwähnt Wolfgang Amadeus Mozart ein Versprechen, das er im Zusammenhang mit seiner Entscheidung, Constanze Weber zu heiraten, gemacht habe. Er drückt Bedauern darüber aus, dass eine geplante Reise mit Constanze nach Salzburg durch »Zeit und Umstände« aufgeschoben wurde und schließt: »zum beweis aber der wirklichkeit meines versprechens kann die spart von der hälfte einer Messe dienen, welche noch in der besten hoffnung da liegt.« Diese »Hälfte« ist zweifellos die Messe c-Moll KV 427 – Mozarts ehrgeizigste Komposition in dieser Gattung und die einzige Messe vergleichbarer Größe zwischen Johann Sebastian Bachs h-Moll-Messe und der Missa solemnis von Ludwig van Beethoven.

Ein Grund für das Ehepaar Mozart, die Reise nach Salzburg zu verschieben, war Constanzes Schwangerschaft: Der Sohn Raimund Leopold wurde am 17. Juni 1783 geboren. Als das Kind kaum mehr als einen Monat alt war, ließen es die Eltern dann in der Obhut einer Amme zurück und brachen nach Salzburg auf, wo sie am 29. Juli 1783 ankamen. Nach dem Tagebuch von Mozarts Schwester Nannerl wurde die Messe, die Mozart aus Wien mitgebracht hatte und »in der meine Schwägerin das Solo singt«, am Donnerstag, dem 23. Oktober, geprobt und am Sonntag, dem 26. Oktober, aufgeführt. Die Mitwirkung von Constanze als Sopranistin deutet darauf hin, dass die erwähnte Messe jene in c-Moll gewesen ist, denn Mozart hatte zu Beginn ihrer Ehe einige Vokalisen für seine Frau komponiert, von denen er eine für das Sopransolo »Christe eleison« in der Messe verwendete.

Auch wenn es sich bei der aufgeführten Messe wohl um die neue Komposition handelte – vollendet hatte Mozart sie nicht. Wir können dies aus einem Stimmensatz schließen, der in Salzburg aus Mozarts Partitur hergestellt worden ist und von Nannerl der Abteikirche Heilig-Kreuz in Augsburg hinterlassen wurde. Dessen Chordirektor, Pater Matthäus Fischer, rekonstruierte daraus um 1808 eine Partitur, bestehend aus dem kompletten Kyrie und Gloria, dem Sanctus mit »Hosanna« und dem Benedictus, das mit einer Wiederholung des zweiten Teils der »Hosanna«-Fuge endet. Die wenigen erhaltenen Salzburger Stimmen teilen ebenfalls nur diese Sätze mit. Demnach sind sie die einzigen, die Mozart vollendete. In seinem Kompositionsautograph findet sich darüber hinaus noch der Beginn des Credo mit den beiden Sätzen »Credo in unum Deum« und »Et incarnatus est«, allerdings nur in Skizzen und nicht vollständig instrumentiert. Der Rest des Credo-Textes, von »Crucifixus« bis »Et vitam venturi saeculi«, ist nicht komponiert.
Die Hauptpartitur des doppelchörigen Sanctus und »Hosanna« ging zusammen mit der kompletten Partitur des Benedictus verloren, überliefert ist ein zusätzliches Bläser-Particell Mozarts, das beweist, dass tatsächlich er auch das Sanctus mit »Hosanna« komponiert hat. Eine sorgfältige Prüfung der colla-parte-Instrumente in der doppelchörigen »Hosanna«-Fuge enthüllt, dass der erhaltene vierstimmige Chor in Fischers Partitur nicht mit einem von Mozarts originalen Chören identisch sein kann: Die Posaunen verdoppeln am Anfang der Fuge nur das Hauptthema, was darauf hinweist, dass der erste Chor dieses Thema singen sollte, der andere aber das Gegenthema.

Weitere, in anderem Zusammenhang überlieferte Mozart-Quellen ermöglichen aber eine plausible Rekonstruktion der fehlenden Sätze. So existieren zwei Skizzen Mozarts zu einem »Dona nobis pacem«, notiert auf einem Skizzenblatt, das heute in einem Faszikel aufbewahrt ist, das die Skizzen zur unvollendeten Oper L'Oca del Cairo KV 422 (Salzburg 1783) enthält. Außerdem erhielt Mozart 1785 den Auftrag, einen Psalm für ein Konzert der Wiener Tonkünstler-Societät zu komponieren, und richtete dazu ein italienisches Libretto so ein, dass es zur Musik von Kyrie und Gloria der Messe passte. Das auf diese Weise entstandene Werk ist als Kantate Davide penitente KV 469 bekannt. Auf das Credo kam Mozart dabei nicht zurück, fügte aber eine Tenor-Arie zwischen »Domine Deus« und »Qui tollis« sowie eine Sopranarie zwischen diesem und dem »Quoniam« ein. Außerdem komponierte er eine Kadenz für die Solosoprane und den Tenor kurz vor dem Ende der »Cum Sancto Spiritu«-Fuge. Nun wurde die Kantate in Zusammenhang mit der Musik der Messe konzipiert. Man könnte also auch umgekehrt vorgehen und den italienischen Text der neuen Kantatenarien durch einen lateinischen ersetzen, um fehlende Sätze der Messe zu bilden.

Aus Mozarts frühen Messen können wir ersehen, dass das Credo nur eine einzige Arie benötigt, das »Et in Spiritum Sanctum«; die anderen Sätze sind chorisch. Das »Agnus Dei« ist normalerweise ein weiterer Solosatz, also werden zu einer Vervollständigung der c-Moll-Messe zwei Arien benötigt. Die Tenorarie aus Davide penitente ist für ein obligates Holzbläserquartett aus Flöte, Oboe, Klarinette und Fagott gesetzt. Die Instrumentation der Messe enthält jedoch keine Klarinetten, und das spezielle Idiom der Soloklarinette sperrt sich gegen jegliche Adaption durch ein anderes Instrument. Die Sopranarie aus Davide penitente hingegen fügt den zwei Oboen eine Flöte hinzu, während im »Et incarnatus est« der Messe einer der Oboisten zur Flöte wechselt (was für heutige Aufführungen jedoch nicht mehr relevant ist, da immer ein Flötist neben den Oboisten eingesetzt wird). Die Arie besteht aus einer langsamen Einleitung in c-Moll im 3/8-Takt, gefolgt von dem Haupt-Allegro in C-Dur. Diese Introduktion ist in Tonart und Ausdruck ideal für das »Agnus Dei«: Der italienische Text endet mit dem Wort »pace« (Frieden), das folgende »Dona nobis pacem« vorausahnend, und es erscheint ein Schlussmotiv, das wiederum eine absteigende Figur aufweist, die den genauen Inhalt der Skizzen zum »Dona nobis pacem« abbildet. Der Hauptteil der Arie passt zwar zum Text »Et in Spiritum Sanctum«, aber in seinen früheren größeren Messen nimmt Mozart die Dominante für diesen Text, und es schien unerlässlich, dieses Tonartenschema zu erhalten. Die Transposition der Arie von C- nach G-Dur und vom Sopran zum Tenor bringt also den Ausdruck hervor, den Mozart in seinen früheren Messen geschaffen hat.

Mozarts frühere Messen legen auch nahe, dass das Credo fünf weitere Sätze enthalten sollte: »Crucifixus«, »Et resurrexit«, »Et in Spiritum Sanctum«, »Et unam sanctam« und »Et vitam venturi«. Die Skizzen zu »Dona nobis pacem« wurden der c-Moll-Messe zugeschrieben, weil sie Teile des Mess-Textes enthalten. Man kann aber nicht ausschließen, dass andere Skizzen ohne Mess-Text ebenfalls die Messe betreffen. So finden sich unter den erhaltenen Skizzen Mozarts einige, die aller Wahrscheinlichkeit nach in Zusammenhang mit der c-Moll-Messe stehen. Sie alle stammen von 1783, als sich Mozart nur mit einem einzigen anderen großen Werk für Chor und Gesang befasste, eben L'Oca del Cairo. Nun sollte es eigentlich nicht schwer sein, Kirchenmusik von solcher für eine komische Oper zu unterscheiden. Ein wichtiges Beispiel, eine achtstimmige Doppelfuge in d-Moll, die – wie die Skizzen zum »Dona nobis pacem« – unter den Handschriften zu der Oper gefunden wurde, zeigt den Wert solcher Kriterien. Das erste Thema dieser Fuge passt nämlich überzeugend zum »Crucifixus«-Text, die Reihenfolge der Einsätze von Subjekt und Kontrasubjekt (von unten nach oben bzw. oben nach unten) bildet ein Kreuz und d-Moll ist eine plausible Tonart, die auf das F-Dur des »Et incarnatus est« folgen könnte.

Warum aber brach Mozart sein Versprechen und ließ die Messe unvollständig? Das »Et incarnatus est« gehört zur strahlendsten, zärtlichsten Musik, die er je niedergeschrieben hat. Womöglich hat der Gedanke an seinen Sohn den zu komponierenden Worten (»Und er hat Fleisch angenommen durch den Heiligen Geist ... und ist Mensch geworden«) eine intensive persönliche Bedeutung verliehen. Raimund Leopold war, kaum zwei Monate alt, am 9. August 1783 in Wien gestorben, während Mozart und Constanze noch in Salzburg weilten - also zehn Wochen, bevor die Messe als Torso aufgeführt wurde. Es ist durchaus möglich, dass sich der trauernde Vater von der Messe abwandte, weil deren Vollendung für ihn zu schmerzlich gewesen wäre.

Ob Mozart die Arbeit an der Messe wieder aufgenommen hätte, wenn er lang genug gelebt hätte, um sich 1793 als Nachfolger des Chordirektors am Wiener Stephansdom zu präsentieren, ist nicht zu beantworten. Eine Antwort auf die Frage, wie eine solche Arbeit ausgesehen haben könnte, liefert die im heutigen Konzert vorgestellte Aufführungsfassung.

Robert Levin

Mitwirkende

Anna Korondi - Sopran
Elisabeth Scholl - Sopran
Lothar Odinius - Tenor
Raimund Nolte - Bass

Chorus Musicus Köln
Das Neue Orchester

Ltg. Christoph Spering