Saison 2011/2012: Konzert 2

Sonntag, 9. Oktober 2011 17 Uhr Forum Volkshochschule im Rautenstrauch-Joest-Museum

L’entretien des Muses

Musik für Violine und Cembalo von Jean-Féry Rebel, François Couperin, Jean-Philippe Rameau, Jean-Marie Leclair, Joseph Cassanéa de Mondonville, Louis-Gabriel Guillemain und Claude-Bénigne Balbastre Hélène Schmitt | Jörg-Andreas Bötticher Schmitt/Bötticher Sendung auf WDR 3 am 20.11.2011 ab 13.04 Uhr

Als »Unterhaltung der Musen« hat Jean-Philippe Rameau eines seiner großartigen Charakterstücke für Cembalo überschrieben, und dieser Titel ließe sich ebenso auf jene sechs Violinsonaten von Landsleuten Rameaus anwenden, die Hélène Schmitt und Jörg-Andreas Bötticher mit nach Köln bringen. In ihnen finden die melodische Eleganz der französischen Musik und die expressive Virtuosität Italiens in neuer Harmonie zusammen.

Programmfolge

Jean-Féry Rebel (1666-1747)
Suite Nr. 1 G-Dur (Pièces pour le violon avec la basse continue, 1704)
Prélude · Allemande · Courante · Sarabande · Bourrée · Chaconne

François Couperin (1668-1733)
Concert Royal Nr. 4 e-Moll (1722)
Prélude · Allemande · Courante françoise · Courante à l'italienne · Sarabande · Rigaudon · Forlane

Jean-Philippe Rameau (1683-1764)
L’entretien des Muses (Pièces de clavessin, 1724)

Jean-Marie Leclair (1697-1764)
Sonate Nr. 12 G-Dur (Quatrième livre de sonates op. 9, 1743)
Largo ma non troppo lento · Allegro · Largo un poco andante · Allegro

Pause

Jean-Joseph Cassanéa de Mondonville (1711-1772)
Sonate G-Dur (Pièces de clavecin en sonates op. 3, 1734)
Allegro · Aria · Allegro

Louis-Gabriel Guillemain (1705-1770)
Sonate Nr. 1 h-Moll (Premier livre de sonates à violon seul avec la basse continue, 1734)
Andante · Allegro ma non presto · Grazioso · Allegro assai

Claude-Bénigne Balbastre (1727-1799)
La Suzanne (Pièces de clavecin premier livre, 1759)
Noblement et animé · Gracieusement · Noblement et animé da capo

Jean-Marie Leclair
Sonate Nr. 5 a-Moll (Quatrième livre de sonates op. 9, 1743)
Andante · Allegro assai · Adagio · Allegro ma non troppo

Dialoge zwischen Musik und Tanz

Wer anderes als Terpsichore und Euterpe sollte sich in L’entretien des Muses aus der Feder von Jean-Philippe Rameau miteinander unterhalten, jene zwei Musen, die den Tanz und die Tonkunst symbolisieren? Beides schien in der barocken französischen Kunst lange Zeit untrennbar miteinander verbunden. Die Hofmusik Ludwigs XIV. definierte sich im wesentlichen über den Tanz, die Suite wurde europaweit zum Symbol des Französischen - und gleichzeitig zum Antipoden der italienischen Sonate und ihres nahen Verwandten, des Concerto. Und schien nicht selbst die Vokalmusik im französischen Idiom zu tanzen? Die Unterhaltung, die Rameau den beiden Musen in den Mund legt, mutet allerdings recht melancholisch an - oder hört man gar nur eine beredt schweigende Bewegung, ein musisches Kreisen in sich oder um sich selbst? Dem Charme des Cembalostücks, das der kurz zuvor von einem Organistenamt an der Kathedrale von Clérmont-Ferrand nach Paris zurückgekehrte Meister der Tastenkunst und der Harmonie in seinen Pièces de clavessin von 1724 eröffentlichte, kann man sich jedenfalls kaum entziehen.

Hélène Schmitt und Jörg-Andreas Bötticher zeigen, dass das französische Musikleben aber schon zu Beginn des 18. Jahrhunderts keineswegs in jener Art stilistischer splendid isolation verharrte, der man am Hofe des Sonnenkönigs am entschiedensten unter der Ägide seines pikanterweise aus Italien stammenden surintendant de la musique Jean-Baptiste Lully gefolgt war. Der Siegeszug der italienischen Musik war auch westlich des Rheins und südlich des Ärmelkanals nicht mehr aufzuhalten - Rameau sollte es zur Jahrhundertmitte am eigenen Leib erfahren, als im Pariser Buffonisten-Streit seine urfranzösische Opernform, die Tragédie en musique, der Kritik von Anhängern der italienischen Opera buffa ausgesetzt war.

Freilich vollzog sich die Öffnung gegenüber dem expressiven italienischen Musikstil auf dem Gebiet der Instrumentalmusik weniger spektakulär. Für den großen Clavecinisten François Couperin, der sich beständig zwischen Paris, Versailles und zeitweise auch dem Hof der exilierten englischen Könige in Saint-Germain-en-Laye bewegte, war diese Öffnung spätestens mit seinen Nouveaux concerts von 1724 Programm, die er als Les goûts-réünis überschrieb, »die (wieder) vereinten Geschmacksrichtungen«. Gleiches hatte er aber auch schon zwei Jahre zuvor in seinen vier Concerts Royaux thematisiert. Dabei handelt es sich um Cembalo-Suiten, die sich ebensogut als Sonaten für ein Melodieinstrument und Basso continuo lesen lassen, denn die Unterstimme ist beziffert. Im vierten dieser Konzerte hat Couperin die Konfrontation zwischen französischem Goût und italienischem Gusto auf den schnellen zweiten Satz der stilisierten Tanzfolge fokussiert: Hier stellt er der »galant« zu spielenden französischen Courante nämlich eine »fröhliche« italienische Schwester an die Seite.

Bezog Couperin seine Kenntnisse der italienischen Musik nicht zuletzt aus den Sonaten des römischen Violinklassikers Arcangelo Corelli, von denen er mehrere Bände sein Eigen nannte, so hatte sein Altersgenosse Jean-Féry Rebel im Jahr 1700 die Gelegenheit, Italienisches vor Ort kennenzulernen: zwar nicht südlich der Alpen, aber südlich der Pyrenäen, als er im Gefolge des Herzogs Philippe von Anjou zu dessen Königskrönung nach Madrid reiste. Dort herrschte längst die Musik Italiens. Rebel, der als Wunderkind auf der Violine von Lully gefördert worden war, stand damals schon dem Opernorchester der Académie royale de musique vor. Wenn er sich in seinen Pièces pour le violon avec la basse continue von 1704 auch an der traditionellen Satzfolge der Suite orientiert, überrascht er doch mit seinem progressiven Violinstil. Der Musikschriftsteller Jean-Laurent Le Cerf de La Viéville attestierte ihm im folgenden Jahr in seiner Comparaison de la Musique Italienne et la Musique Françoise italienisches Genie und Feuer - ebenso aber guten Geschmack und Gespür, dieses Feuer durch französische Klugheit und Zartheit zu zügeln; so wahre er auch gebührenden Abstand von den monströsen Kadenzen, in denen sich die Italiener gefielen.

Zum einflussreichsten Verfechter des italienischen Violinstils in Frankreich wurde Jean-Marie Leclair, Spross einer geigenden Handwerkerfamilie aus Lyon, der in Turin durch die Schule Giovanni Battista Somis gegangen war. Seine schier unerhörte Violinkunst verschaffte ihm schnell das Entrée in die Pariser Gesellschaft. Als erster französischer Geigenvirtuose machte er bei Konzertreisen in ganz Europa Furore, nicht zuletzt bei einem Wettstreit mit dem Italiener Pietro Locatelli. 1733 gelangte er als Ordinaire de la musique du roi auch an den Hof Ludwigs XV., quittierte allerdings den Dienst bald wegen unüberbrückbarer Differenzen mit seinem ebenfalls in Turin ausgebildeten italienischen Violinkollegen Giovanni Pietro Ghignone alias Jean-Pierre Guignon. Als sein Mäzen François du Liz in Den Haag 1743 bankrott ging, kehrte Leclair nach einem niederländischen Intermezzo an die Seine zurück und veröffentlichte dort prompt sein viertes Buch mit Sonaten für Violine und Basso continuo, aus dem die beiden im heutigen Konzert zu hörenden Kompositionen stammen. Leclair war vielleicht weniger ein französischer oder italienischer als ein europäischer Künstler; er schreibt expressive Musik, die sich doch durch eine elegante Stimmführung und einen harmonisch ausgewogenen Satz auszeichnet.

Ein würdiger Nachfolger Leclairs im königlichen Orchester wurde ein weiterer Schüler von Somis in Turin: Louis-Gabriel Guillemain, der aus Paris stammte. Auf die komfortable Stelle in Versailles war er nach Stationen in den Opernorchestern von Lyon und in Dijon gelangt - jener Stadt, die ihm 1734 ein Druckprivileg für die Veröffentlichung von Violinsonaten ausstellte. Umgehend war denn dort auch das erste, wegen seiner technischen Ansprüche aufsehenerregende Premièr livre de sonates à violon seul avec la basse continue erschienen, aus dem heute die dritte Sonate zu hören ist. Der Frankreich-erfahrene Berliner Musikschriftsteller Friedrich Wilhelm Marpurg charakterisierte Guillemain noch zwanzig Jahre später als einen Mann, «für den keine Schwierigkeit zu groß ist, die er nicht beim ersten Anblick vom Blatte weg, in der möglichsten Vollkommenheit, treffen sollte. Seine Kompositionen sind ziemlich bizarr, und studiert er täglich darauf, sie noch immer bizarrer zu machen.» Vor dem gestrengen Le Cerf (der allerdings schon 1707 gestorben war) hätte Guillemain damit wahrscheinlich keine Gnade gefunden. Übrigens scheint ihn sein Lampenfieber davon abgehalten zu haben, seine außergewöhnlichen geigerischen Fähigkeiten häufiger in den renommierten Pariser Concerts spirituels unter Beweis zu stellen.

Dem in Narbonne geborenen Geigenvirtuosen Jean-Joseph Cassanéa de Mondonville gelang es Anfang der 1730er Jahre schon von seiner Konzertmeisterposition in Lille aus, das Pariser Publikum der Concerts spirituels mit seinen Kompositionen auf sich aufmerksam zu machen. 1739 begann dann seine Karriere in der Chapelle royale in Versailles. Seinem Opus 1, den Sonaten für Violine und Basso continuo von 1733, hatte Mondonville ein Jahr später jene sechs Pièces de clavecin en sonates folgen lassen, die mit ihrem auskomponierten Cembalosatz zum Vorbild für spätere Generationen werden sollten, bis hin zu Wolfgang Amadeus Mozarts Sonaten für Clavier in Begleitung einer Violine. Die formal klare und doch ausdrucksstarke Schreibweise seiner Kompositionen lässt die Frage nach französischen und italienischen Elementen geradezu obsolet erscheinen: Mondonville ist einfach Mondonville.

Der Cembalist und Organist Claude-Bénigne Balbastre, der wie sein späterer Pariser Förderer Rameau aus Dijon stammte, beantwortete die Frage nach dem zu wählenden Kompositionsstil recht flexibel - was ihm als ehemaligem Cembalolehrer des Pariser Adels in der Zeit des Terreur von besonderen Nutzen gewesen sein mochte: Nicht ohne politisches alkül dürfte er 1793 den Marche des Marseillois pour le forte piano komponiert haben. Balbastre griff zukunftsweisende musikalische Ideen – zum Beispiel aus Mondonvilles Pièces de clavecin en sonates – begierig auf, ebenso fühlte er sich aber noch der Tradition der Clavecinisten-Schule des 17. Jahrhunderts verbunden. In seinen Pièces de clavecin von 1759, einer Sammlung von Charakterstücken, die sich in altgewohnter Weise auf bestimmte Personen aus dem Umfeld adeliger Salons beziehen, verbindet er die harmonische Souveränität Rameaus mit jener virtuosen Sonatenkunst Domenico Scarlattis, die er in einer seit 1751 komplett vorliegenden vierbändigen Pariser Ausgabe studieren konnte. Die revolutionäre zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts war angebrochen, und Euterpe gab in der Unterhaltung mit Terpsichore erst einmal den Ton an.

behe

Mitwirkende

Hélène Schmitt – Violine
Jörg-Andreas Bötticher – Cembalo