Saison 2011/2012: Konzert 8

Sonntag, 3. Juni 2012 17 Uhr WDR-Funkhaus

Corelli und das Concerto grosso

Harmonie universelle Ltg. Florian Deuter Harmonie universelle Sendung auf WDR 3 am 8. Juni 2012

Um 1680 hörte der Salzburger Hoforganist Georg Muffat bei einem Studienaufenthalt in Rom die Concerti grossi von Arcangelo Corelli »mit grossem Lust und Wunder«. Ein Eindruck, der sich noch heute einstellt, wenn sich ein Ensemble wie Florian Deuters Harmonie Universelle das 1714 in Amsterdam erschienene legendäre Opus 6 von Corelli vornimmt - eine römische Alternative zu den Solokonzerten des Venezianers Vivaldi. Corelli, der Star des italienischen Violinspiels im letzten Drittel des 17. Jahrhunderts, hat darin die künstlerische Idee, mit den Kontrasteffekten zwischen einem größer besetzten Instrumentalensemble und einer kleinen Solistengruppe zu spielen, in virtuosester Weise perfektioniert.

Programmfolge

Arcangelo Corelli (1653-1713) Concerto grosso F-Dur op. 6/2 Vivace / Allegro / Adagio / Vivace / Allegro / Largo andante - Allegro - Grave / Andante. Largo - Allegro Georg Friedrich Händel (1685-1759) Concerto grosso e-Moll op. 6/3 Larghetto affettuoso - Andante - Allegro - Polonaise. Andante - Allegro ma non troppo Arcangelo Corelli Concerto grosso c-Moll op. 6/3 Largo - Allegro - Grave - Vivace - Allegro Antonio Vivaldi (1678-1741) Concerto c-Moll RV 510 für 2 Violinen, Streicher und Basso continuo Allegro - Largo - Allegro Pause Arcangelo Corelli Concerto grosso B-Dur op. 6/5 Adagio / Allegro / Adagio - Adagio - Allegro / Adagio - Largo / Allegro Georg Friedrich Händel Concerto grosso a-Moll op. 6/4 Larghetto affettuoso - Allegro - Largo e piano - Allegro Arcangelo Corelli Concerto grosso D-Dur op. 6/4 Adagio / Allegro - Allegro - Adagio - Vivace - Allegro

Produktiver Wettstreit

Keine musikalische Idee bewegte die Komponisten und Interpreten zwischen der großen Stilwende um 1600 und dem Herbst des Barocks zur Mitte des 18. Jahrhunderts so nachhaltig wie die des »Konzertierens«. Sie umfasste alle Stilbereiche und Formen, vom lautenbegleiteten Sologesang in der Fürstenkammer über die prachtvolle vokal-instrumentale Mehrchörigkeit in den großen Kirchenräumen bis zu den mehr oder weniger stark besetzten Instrumentalaufführungen vor Eintritt zahlendem Publikum (das bezeichnenderweise seit dem frühen 18. Jahrhundert die veranstaltenden Institutionen wie die Veranstaltungen selbst immer häufiger als »Konzert« bezeichnete). Sogar die Erfolgsgeschichte der Oper, des anderen wegweisenden musikalischen Geschöpfs der frühen Barockzeit, wäre ohne die Idee des »concertare« nicht denkbar - des wettstreitartigen musikalischen Dialogs verschiedener Akteure in wechselnden Konstellationen und unerschöpflicher thematischer Vielfalt.

Das »Concerto« hätte aber von Italien ausgehend kaum europaweit solche Furore gemacht, wären da nicht geschäftstüchtige Notendrucker und -verleger gewesen. Der bedeutendste unter ihnen war Estienne Roger in Amsterdam. Er besaß ein sicheres Gespür für künstlerische Qualität und einen ebenso ausgeprägten Sinn für die Bedürfnisse des musizierfreudigen Publikums nördlich der Alpen, das sich aus standesbewusstem Adel und einer finanziell potenten, kulturell ambitionierten bürgerlichen Oberschicht rekrutierte. Roger bot die Musik Italiens in recht zuverlässigen und ästhetisch ansprechenden Kupferstich-Drucken an. Dazu kopierte er anfangs italienische Originalausgaben; später ging er dazu über, mit den Komponisten selbst Publikationsverträge abzuschließen.

Im heutigen Konzert steht mit einem der einflussreichsten Komponisten seiner Zeit auch eine der bedeutendsten Ausgaben Rogers im Mittelpunkt: der römische Meistergeiger Arcangelo Corelli und sein Opus 6. Dabei handelt es sich um zwölf Kompositionen für, wie es der Titel formuliert, »zwei obligate Violinen und Violoncello als Concertino sowie nach Belieben zwei weitere Violinen, Viola und Bass, die auch mehrfach besetzt werden können, als Concerto grosso«. Kompositorischer Ausgangspunkt und Grundsubstanz ist die barocke Triosonate für zwei Violinen und Basso continuo, doch die eigentliche Werkidee verwirklicht sich im kunstvollen Gegenüber von solistischem Triosatz und seinem chorischen Widerhall im großen Ensemble, das dieser Konzertform ihren Namen gegen hat. Wie groß dieses Grosso sein konnte, das zeigt ein Blick in die Arbeitswelt Corellis. Er wirkte für nahezu vier Jahrzehnte freiberuflich in den Orchestern der kunstsinnigen Kardinäle und Adeligen Roms als gefeierter Violinist, der in der Regel auch die Position des Konzertmeisters einnahm. Als solcher leitete er gemeinsam mit dem jeweiligen Kapellmeister auch vokal-instrumentale Werke, vor allem Oratorien. Für die galten in Rom Ensembles mit anderthalb bis zwei Dutzend Violinen und ebenso vielen weiteren Instrumenten durchaus als Standard; andernorts, insbesondere in der Provinz, waren wesentlich kleinere Ensemblestärken bis hin zur solistischen Besetzung üblich.

Um das Jahr 1700 verhalf Rogers unmittelbarer Nachdruck der in Rom erschienenen Violinsonaten Opus 5 der Musik Corellis im Norden zum Durchbruch. Im April 1712 ging Corelli dann einen Vertrag mit dem Amsterdamer Verleger über den Druck von einem Dutzend Concerti grossi ein, die als sein Opus 6 erscheinen sollten. Aus dem Dezember desselben Jahres datiert die Widmung der Ausgabe an den pfälzischen Kurfürsten Johann Wilhelm von der Pfalz-Neuburg, der in Düsseldorf (und zur Jagdsaison in dem von ihm erbauten Neuen Schloss in Bensberg) residierte und auf dessen Aufforderung hin Corelli schon einmal im Mai 1708 ein »Concertino dà Cammera« ins Rheinland übersandt hatte. Gerne hätte sich der Kurfürst beim Komponisten für die Zueignung des Opus 6 revanchiert, doch als es 1714 auf den Markt kam, war Corelli bereits ein Jahr tot. So ernannte Johann Wilhelm stellvertretend den Bruder Ippolito Corelli zum »Marchese di Ladenburg«, einem Neckarstädtchen zwischen Mannheim und Heidelberg.

Arcangelo Corelli hat in seinen Concerti, deren Großabschnitte sich meist aus mehrgliedrigen Teilsätzen zusammenfügen, zu einer wohlaustarierten Sprache gefunden, in der sich Solomelodien und Kontrapunkte in schönster Harmonie begegnen. Die heutige Auswahl des Ensembles Harmonie Universelle präsentiert vier der ersten sechs Concerti aus Corellis Druck, die dem Stil der Kirchensonate nahestehen, ohne dass man sie deswegen als dezidiert liturgische Werke missverstehen sollte. Die zweite Hälfte des Opus 6 bietet dagegen suitenartige Satzfolgen mit stilisierten Tanzcharakteren im Sinne der Kammersonate. In allen diesen Werken geht die Virtuosität des Einzelnen in der schattierungsreichen Dynamik des chorischen Ensembleklangs auf, und das betont die Klassizität, die von Corellis Orchestersprache ausgeht. Vieles deutet darauf hin, dass zumindest ein Teil der Concerti grossi bei Drucklegung bereits mehrere Jahrzehnte alt war. So berief sich schon 1682 der Musiker Georg Muffat auf die »mit großer Anzahl Instrumentisten aufs genaueste produzierten Konzerten vom kunstreichen Herrn Arcangelo Corelli«, die er kurz zuvor bei einem vom Salzburger Fürsterzbischof finanzierten römischen Studienaufenthalt kennengelernt hatte.

Unmittelbar bevor er mit Corelli handelseinig geworden war, hatte Roger dessen venezianischen Antipoden Antonio Vivaldi 1712 erstmals mit einer vorzüglichen Edition von Konzerten bedacht: Unter dem Titel L’Estro Armonico (»Harmonische Eingebung«) lieferte der Ensemblekompositionen mit einer oder mehreren konzertierenden Violinen und setzte dabei der von Corelli bevorzugten eleganten Reihung kompositorischer Einfälle eine wirkungsvoll dosierte Menge eingängiger Motive entgegen, die er mit größter satztechnischer Souveränität zu leicht fasslichen Ritornell-Formen modelliert hatte. Nahezu parallel zu den römischen Concerti Opus 6 erschien 1714 mit der Sammlung La Stravaganza (»Extravaganz«) eine zweite Vivaldi-Edition mit Violinkonzerten bei Roger, der sich 1725 und 1727 zwei weitere Drucke anschlossen. Als musikalisches Experimentierfeld diente Vivaldi das Ospedale della Pietà, eines der venezianischen Mädchen-Waisenhäuser, die zugleich exquisite Musikschulen darstellten. Dort bekleidete er als maestro di violino und später als maestro de’ concerti immer wieder befristete Teilzeitstellen, und dort dürfte auch die Mehrzahl all der vielen Konzerte Vivaldis erstmals erklungen sein, die er nicht der Druckpresse anvertraute. Zu ihnen zählt das Concerto c-Moll für zwei Violinen, Streicher und Basso continuo RV 510. Es entstand Anfang der 1720 Jahre und scheint Vivaldis ureigene Vorstellung vom Solokonzert mit jener Corellis vom Concerto grosso nahezu in Einklang zu bringen - besonders, wenn im Mittelsatz das Spiel nach Triosonaten-Art alleine dem »Concertino« aus zwei Violinen und Basso continuo überlassen bleibt.

Ein Vierteljahrhundert nach Georg Muffat lernte auch Georg Friedrich Händel beim Studienaufenthalt in Italien Corelli und seine Kunst kennen. Zwischen 1707 und 1709 führte er in Rom eine Reihe eigener Kompositionen mit Ensembles auf, die von Corelli als Konzertmeister angeführt wurden. Mit dessen Opus 6 setzte sich Händel dann drei Jahrzehnte später in London auseinander. Der dortige Verleger John Walsh war ähnlich geschäftstüchtig wie Roger und hatte 1732 Corellis Concerti grossi erstmals in Partiturform veröffentlicht - was Einblicke in dessen Kompositionswerkstatt erleichterte. Zwei Jahre später ließ Walsh unter der Opuszahl 3 sechs Concerti grossi Händels folgen, die er offenbar eigenmächtig aus Instrumentalsätzen zu verschiedenen Vokalwerken zusammengestellt hatte. Im Frühjahr 1740 druckte er dann aber als Opus 6 zwölf originale Concerti grossi aus Händels Feder - »publish’d by the Author«, wie er im Jahr darauf in der Zweitauflage betonte. Händel hatte diese Werke 1739 innerhalb eines Monats komponiert, und dass er dabei bewusst an Corelli anknüpfen wollte, macht nicht nur die Opuszahl deutlich: In ihrer Besetzung mit Streichern (die im Tutti um mitgehende Oboen verstärkt werden können), der durchgängigen Gliederung in Concertino- und Grosso-Abschnitte und in der Orientierung an der Form der Kirchensonate erweisen sich Händels »Twelve Grand Concertos« als würdige Nachfolger von Corellis Concerti grossi. Aber sie sind auch deutlich wahrnehmbar die Werke eines jüngeren Komponisten - und eines ausgesprochenen Dramatikers, den bis in kühne Harmoniewendungen hinein der kontrastreiche Wechsel der Affekte umtreibt.

behe

Mitwirkende

Harmonie universelle heute in folgender Besetzung

Florian Deuter (Violine solo und Leitung), Mónica Waisman (Violine solo)

Joseph Tan, Sebastian Griewisch, Chiharu Abe, Evan Few, Meritxell Alsina, Adrian Bleyer (Violine)
Aino Hildebrandt, Stefan Schmidt (Viola)
Johannes Berger (Violoncello)
Dane Roberts (Violone)
Christopher Scotney (Contrabasso)
Johanna Seitz (Harfe)
Michael Dücker (Theorbe)
Philippe Grisvard, Francesco Corti (Cembalo)