2022/2023: Konzert 6

Sonntag, 12. März 2023 WDR-Funkhaus 17 Uhr

Arkadiens Netze

Italienische Arien und Sonaten um 1700 dies- und jenseits der Alpen von Alessandro Scarlatti, Giovanni Battista Bononcini, Alessandro Marcello, Arcangelo Corelli und Georg Friedrich Händel Bruno de Sá - Sopran Ensemble 1700 Ltg. Dorothee Oberlinger - Blockflöte Bruno de Sá Dorothee Oberlinger Sendung auf WDR 3 am 12. April 2023 ab 20.04 Uhr

Das Kulturleben Roms wurde 1698 von einem päpstlichen Verbot aller Theater- und Opernaufführungen empfindlich getroffen. Doch fand die weltliche Musik eine wunderbare Nische: den Literatenzirkel der Accademia dell’Arcadia. Aus dem überreichen Fundus der Werke, die daraus hervorgingen, haben die Kölner Blockflötistin Dorothee Oberlinger und der brasilianische Sopranist Bruno de Sá ein mitreißendes Programm zusammengestellt. Die Werke sind durch ein unterirdisches Netz der Inspiration verbunden, das sich über ganz Europa ausbreitete.

Programmfolge

Alessandro Scarlatti (1660–1725) Sinfonia aus der Serenata Clori, Dorino e Amore (Neapel 1702) für Streicher und Basso continuo Georg Friedrich Händel (1685–1759) Orgelkonzert F-Dur op. 4,5 HWV 293 (London 1738) in der Bearbeitung für Blockflöte, Streicher und Basso continuo nach der Blockflötensonate HWV 369 Larghetto – Allegro – Alla siciliana – Presto Giovanni Bononcini (1670–1747) Partir vorrei Arie des Aci aus Polifemo (Berlin 1702) für Sopran und Basso continuo Alessandro Scarlatti Più non m’alletta e piace Arie des Adone aus der Serenata Il giardino d’amore (Rom um 1700) für Sopran, Flautino und Basso continuo Alessandro Marcello (1673–1747) Oboenkonzert d-Moll (Amsterdam 1716) in der Bearbeitung für Blockflöte, Streicher und Basso continuo Andante e spiccato – Adagio – Presto Giovanni Bononcini Ombra mai fu Arie des Xerse aus der Oper Xerse (Rom 1694) für Sopran, Streicher und Basso continuo Farfalletta che segue d’amor Chor aus der Oper Polifemo in der Fassung für Sopran, Streicher und Basso continuo Pause Alessandro Scarlatti Sinfonia zur Serenata Venere ed Amore (Neapel um 1695) für Blockflöte, Streicher und Basso continuo Georg Friedrich Händel Qui l’augel Arie des Aci aus der Serenata Aci, Galatea e Polifemo HWV 72 (Neapel 1708) für Sopran, Blockflöte, Streicher und Basso continuo Come nube Arie des Nerone aus der Oper Agrippina (Venedig 1709) für Sopran, Streicher und Basso continuo Francesco Barsanti (1690–1770) Johnnie Faa aus A Collection of Old Scots Tunes (Edinburgh 1742) für Blockflöte und Basso continuo Arcangelo Corelli (1653–1713) Violinsonate F-Dur op. 5,10 (Rom 1700) in der Orchesterfassung von Francesco Geminiani (London 1726) mit Verzierungen von William Babell für Blockflöte, Streicher und Basso continuo Preludio. Adagio – Allemanda. Allegro – Sarabanda. Largo – Giga. Allegro – Gavotta. Allegro Georg Friedrich Händel Tu del ciel Arie der Belezza aus dem Oratorium Il trionfo del tempo HWV 46a (Rom 1707) für Sopran, Blockflöte, Streicher, Basso continuo

Barocke Influencer im Dienst der Musik

Vielfältig wie in keiner anderen europäischen Metropole stellte sich das Musikleben im Rom des 17. und 18. Jahrhunderts dar. Dafür sorgten neben der päpstlichen Cappella Sistina und der Cappella Giulia am Petersdom zunächst die vielen weiteren Kirchen mit ihren eigenen und oft bemerkenswert aufwändigen Liturgien. Dafür sorgten aber seit der Spätrenaissance auch mehr und mehr Musikensembles in vielen der prachtvollen Adelspaläste, die Mitgliedern einflussreicher italienischer Familien als Residenzen in der Ewigen Stadt dienten – vorneweg Klerikern im Kardinalsrang. Die Schar der Eminenzen bereicherten diplomatische Vertreter am Heiligen Stuhl, zudem nahmen weitere Gäste aus der Ferne auf ihrer standesgemäßen Grand Tour durch Europa für Wochen oder Monate in Rom mit gebührendem Aufwand Quartier.

Im Dezember 1655 zog eine Persönlichkeit in Rom ein, die selbst aus dieser illustren Gesellschaft herausragte: die schwedische Königin Christina, die nach ihrer Abdankung und Konversion zum Katholizismus die Ewige Stadt zum Ort ihres Exils gewählt hatte. Fortan gab sie neben dem Mäzen Lorenzo Onofrio Colonna in der örtlichen Musiktheater- Szene den Ton an. Zu den leitenden Musikern bei Christina gehörten der für den modernen Instrumentalstil wegweisende Violinvirtuose Arcangelo Corelli und der wichtigste Vokalkomponist an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert, Alessandro Scarlatti. Corelli trug den Beinamen Il Bolognese, ebenso zählte Scarlatti als Sizilianer, der auch noch für den spanischen Vizekönig in Neapel tätig war, zu den vielen Künstlern von außerhalb mit lohnenden Engagements in Rom. Scarlatti war hier in den 1680er-Jahren neben Bernardo Pasquini der erfolgreichste Opernkomponist. 1692 betrat Giovanni Bononcini mit reichlich Arienbeiträgen zu einem Pasticcio für das von Christina finanzierte Teatro Tordinona die römische Bühne; eigene Opern schlossen sich an. Zuvor hatte sich der gelernte Cellist in seiner Geburtsstadt Modena und im benachbarten Bologna kompositorisch profilieren können.

Das römische Musiktheater hing allerdings auf Gedeih und Verderb vom Wohlwollen des jeweiligen Papstes ab. Giulio Rospigliosi, der als Kardinal noch Opernlibretti verfasst hatte, blickte auch als Clemens IX. recht wohlwollend vom Stuhl Petri auf die Vielfalt kultureller Blüte in Rom. Allerdings sprach er schon zu Beginn seines zweieinhalb Jahre währenden Pontifikats 1667 ein öffentliches Auftrittsverbot für Frauen in musikalischen Darbietungen aus. Entsprechend gefragt waren seitdem Kastraten, denen andernorts auf der Opernbühne heroische männliche Charaktere vorbehalten waren, in weiblichen Rollen. Papst Innozenz XI. untersagte dann 1689 sogar alle öffentlichen und privaten Theateraufführungen in der Stadt. Innozenz XII. ging neun Jahre später noch radikaler vor und ließ die drei noch existierenden Theaterhäuser zerstören. Bis 1710 sollte sein Theaterverbot in Rom Bestand haben.

Mit dem Tod Christinas und Lorenzo Onofrio Colonnas hatte das römische Musikleben 1689 noch zwei weitere herbe Schläge verkraften müssen. Dem versuchte der elitäre Literatenzirkel der römischen Accademia dell’Arcadia entgegenzuwirken. Er hatte sich im Jahr nach dem Tod der Königin gegründet, um ihr künstlerisches Vermächtnis zu bewahren. Der Name Arkadien stand dabei für jenes Land der antiken Mythologie, in dem Schäferinnen und Hirten ein Leben in Frieden und im Einklang mit der Natur führten und sich dem Gesang oder dem Spiel ihrer Instrumente widmen konnten – ein Ideal, dem es nach den Vorstellungen der Akademie-Mitglieder auch in Rom weiterhin nachzueifern galt.

Corelli und Scarlatti zählten zu den ersten Komponisten, die man in die Akademie aufnahm – allerdings erst 1696. Kreativ nutzten sie die Spielräume, die ihnen vor Ort zur musikalischen Betätigung blieben: die Instrumentalmusik, nicht-szenische weltliche Vokalwerke wie Solo-Kantaten und Serenaten mit zwei oder mehr Singstimmen, nicht zuletzt aber die in der kompositorischen Ausgestaltung durchaus dramatischen Oratorien über geistliche Sujets – in den Fastenzeiten hatten sie immer schon als Opern-Ersatz herhalten müssen. Gleichzeitig hielten die in Rom tätigen Musiker vermehrt nach Möglichkeiten Ausschau, ihre Kunst auch außerhalb der Stadt zur Geltung zu bringen. Längst war nämlich die Nachfrage nach Music made in Italy in den Metropolen nördlich der Alpen mindestens ebenso hoch wie im sprichwörtlichen Mutterland der Musik.

Giovanni Bononcini hatte das Glück, Ende 1697 von Kaiser Leopold I. nach Wien berufen zu werden. Trotz seiner Erfolge als Vokalkomponist wurde er allerdings 1711 nach dem frühen Tod von Leopolds Sohn und Nachfolger Joseph I. nicht weiter am Hof beschäftigt. Er fand erneut Engagements in Rom und Neapel, sein großes Spielfeld der 1720er-Jahre wurde dann aber London, wo die Begeisterung für die italienische Musik schon seit der Jahrhundertwende keine Grenzen kannte. Als erste italienische Oper überhaupt hatte das Publikum an der Themse bereits 1706 in einer englischsprachigen Bearbeitung die für Neapel komponierte Camilla von Bononcini kennenlernen können. Aber noch früher kam ein erlesenes Publikum vor den Toren Berlins zu einem vergleichbaren Genuss, und das in Anwesenheit des Komponisten. Bononcini war mit weiteren Wiener Kollegen dorthin gereist, während die Musik am Kaiserhof wegen des Spanischen Erbfolgekrieges schwieg. Das Ziel der Truppe, zu der auch Bononcinis Bruder Antonio als Cellist und der Theorbist Francesco Bartolomeo Conti gehörten, war Schloss Lietzenburg, der Musenhof von Sophie Charlotte. Sie war die Gattin jenes brandenburgischen Kurfürsten Friedrich III., der sich im Jahr zuvor zum preußischen König gekrönt hatte. Auf ihre Initiative kam hier Bononcinis Polifemo zur Uraufführung, worin meistens hohe Personen, unter andern eine hernach nach Cassel verheiratete Marckgräfinn, sangen, die Königinn Sophia Charlotte aber selbst auf dem Clavier accompagnirten, und das Orchester grossen Theils mit Capell- und Concertmeistern besetzet war. So berichtet es mit dem jungen Georg Philipp Telemann ein heimlicher Augenund Ohrenzeuge. Da wurde also anno 1702 im heutigen Schloss Charlottenburg etwas von jenem arkadischen Geist lebendig, der zuvor in Rom die Umgebung der Christina von Schweden bestimmt hatte.

Bezeichnenderweise war Sophie Charlotte im Jahr 1700 auch schon die Widmungsträgerin von Arcangelo Corellis Violinsonaten Opus 5, die schnell zu stilbildenden Klassikern des Solorepertoires wurden. Von deren Popularität in England profitierte in besonderer Weise der Geiger Francesco Geminani, ein ehemaliger Schüler Corellis und Scarlattis in Rom, der 1714 nach London gekommen war: 1726 veröffentlichte er diese Kompositionen für Violine und Basso continuo in einer reizvollen Fassung mit Orchester, vor dessen Klangfarben sich die Solostimme umso brillanter abhebt. Dass diese Partie nicht nur auf der Violine, sondern auch auf anderen Instrumenten ausgeführt werden konnte, verstand sich in der damaligen Praxis von selbst. Auf der britischen Insel war da nicht zuletzt die Blockflöte als Alternative beliebt, wie zeitgenössische Notenausgaben belegen. Die Auszierungen der Oberstimme durch den Londoner Geiger William Babell sind in einem zeitgenössischen Manuskript überliefert.

Der Flötist Francesco Barsanti, der wie Geminiani aus Lucca stammte und mit ihm 1714 nach London gekommen war, gab in seinen Veröffentlichungen oft die Alternative Flauto o Violino an. In seiner originellen Collection of Old Scots Tunes von 1742 lässt er die Besetzung der Oberstimme aber einfach offen: Ich habe in verschiedenen alten schottischen Melodien eine Eleganz und Vielfalt der Harmonie entdeckt, die den Kompositionen der berühmtesten Meister dieser Zeiten ebenbürtig ist. Auf Verlangen verschiedener Gentlemen mit Geschmack habe ich mich bemüht, diesen alten Kompositionen mit einer korrekten und natürlichen Bassstimme Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.

Alessandro Marcello hingegen musste auf den Geschmack potenzieller Auftraggeber keine Rücksicht nehmen. Als Mann von Adel musizierte und komponierte der international vernetzte homme de lettres aus Venedig nur zu seinem Vergnügen. Sein Oboenkonzert d-Moll erschien erstmals 1716 in einem Amsterdamer Sammeldruck. Dass es damals längst in Manuskriptformnördlich der Alpen bekannt war, belegt unter anderem die Transkription des Werks für Cembalo solo, die Johann Sebastian Bach offenbar schon einige Jahre zuvor in Weimar angefertigt hatte.

Der Weg der Musik über die Alpen war keine Einbahnstraße. Das bewies aufs Schönste Georg Friedrich Händel, der nach ersten Opernerfolgen in Hamburg mit etwa 21 Jahren in den Süden ging. Über Venedig und Florenz kam der Hallenser wohl Anfang 1707 nach Rom, wo er trotz der päpstlichen Beschränkungen (und der Tatsache, dass er Lutheraner war) für zwei Jahre im Mittelpunkt des Musiklebens stand: ein von Corelli, Pasquini, von Alessandro Scarlatti und dessen Sohn Domenico geachteter junger Kollege, dem auf der Orgel keiner etwas vormachte und der nach wenigen Wochen mit seinem ersten Oratorium Il trionfo del tempo auf ein Libretto des Kardinals Benedetto Pamphilj auch als Vokalkomponist für Aufsehen sorgte. Die Aufführung im damals aller Theater beraubten Rom fand offenbar halböffentlich im Collegio Clementino statt, das als Bildungseinrichtung von einer Ordensgemeinschaft geführt wurde.

Als veritabler Opernkomponist präsentierte sich Händel in der Folge auch noch 1708 mit dem Drei-Personen-Stück Aci, Galatea e Polifemo zu einer Fürstenhochzeit in Neapel und 1709 mit der Oper Agrippina, die er auf dem Rückweg nach Deutschland für Venedig komponierte. Von seinen Erfahrungen mit der italienischen Musik profitierte für kurze Zeit der Kurfürstenhof in Hannover. London erwies sich dann letztlich auch für Händel als passendere Wahlheimat, in der er sich alsbald als Musikveranstalter mit einer Reihe zugkräftiger Sängerinnen und Sänger aus Italien behaupten konnte.

Der Sopranist Bruno de Sá, die Blockflötistin Dorothee Oberlinger und ihr Ensemble 1700 lassen die aufregende pan-europäische Welt der italienischen Barockmusik an der Wende zum 18. Jahrhundert wieder lebendig werden. Im Wechsel mit den Instrumentalsätzen zeigen die Arien-Highlights Bononcini, Scarlatti und Händel als Komponisten, die immer den Zauber arkadischer Welten vor Augen hatten, wenn sie für die superben Stimmen der virtuosesten Kastraten schrieben. Gerne ließen sie deren lyrische Qualitäten im Dialog mit den pastoralen Klängen der Blockflöte in einem ganz besonderen Licht leuchten.

behe

Mitwirkende

Bruno de Sá - Sopran Ensemble 1700 Ensemble 1700 Ltg. Dorothee Oberlinger - Blockflöte Heute musiziert das Ensemble 1700 in folgender Besetzung: Dorothee Oberlinger – Blockflöte und Leitung Evgeny Sviridov, Anna Dmitrieva – Violine | Gabrielle Kancachian – Viola Marco Testori – Violoncello | Kit Scotney – Violone Michael Dücker – Laute | Olga Watts – Cembalo