Saison 2013/2014: Konzert 3

Sonntag, 10. November 2013 17 Uhr Museum für Angewandte Kunst

Bachs Fantasien

Fantasien, Toccaten und Capricci von Johann Sebastian Bach Léon Berben – Cembalo Léon Berben Die Aufzeichnung des Konzertes sendet WDR 3 zu einem späteren Zeitpunkt.

Was sind doch alle heutigen Schwierigkeiten auf allen Instrumenten und allen Singstimmen gegen die, die dieser Mann vor dreißig Jahren auf dem Clavier und auf der Orgel vorgetragen hat?, fragte anno 1774 der Berliner Kapellmeister Johann Philipp Kirnberger im Gedenken an seinen Lehrer Johann Sebastian Bach. Wie der seine Zuhörer durch virtuoseste Improvisationen beeindruckte, das lassen die überlieferten Fantasien und Toccaten aus seiner Feder erahnen, in deren Satzstruktur das Stehgreifspiel noch mitschwingt. Mit Léon Berben stellt ein ausgewiesener Experte des historischen Claviers Juwelen der Bach'schen Fantasierkunst vor.

Programmfolge

Johann Sebastian Bach (1685 – 1750)

Fantasia und Fuge a-Moll, BWV 904

Toccata e-Moll, BWV 914

Fantasia a-Moll, BWV 922

Präludium und Fuge über ein Thema von Tomaso Albinoni h-Moll, BWV 923/951a

Capriccio sopra la lontananza del frato dilettissimo B-Dur, BWV 992
1. Arioso, adagio. Ist eine Schmeichelung der Freunde, um denselben von seiner Reise abzuhalten
2. [Fuga] Ist eine Vorstellung unterschiedlicher Casuum, die ihm in der Fremde könnten vorfallen
3. Adagiosissimo. Ist ein allgemeines Lamento der Freunde
4. Allhier kommen die Freunde (weil sie doch sehen, dass es anders nicht sein kann) und nehmen Abschied
5. Allegro poco. Aria del Postiglione
6. Fuga all' imitatione della posta
Fantasia cromatica und Fuge d-Moll, BWV 903

Phantasievoll und kontrapunktisch

Einen dramatischen Wendepunkt in seinem Leben musste Johann Sebastian Bach schon in seiner Kindheit erfahren – den Tod der Eltern in Eisenach und die Aufnahme im Provinzstädtchen Ohrdruf, in den Organistenhaushalt des älteren Bruders Johann Christoph. Der dürfte erleichtert gewesen sein, als er die außergewöhnliche musikalische Begabung seines Schutzbefohlenen bestätigt fand. So würde er eher früher als später mit einer eigenen Organistenstelle versorgt und damit finanziell unabhängig sein. Entsprechend bildete er den Bruder am Tasteninstrument aus, wie es damals üblich war: Durch eifriges Kopieren und Einstudieren exemplarischer Kompositionen großer Meister eignete man sich die nötigen Fähigkeiten zum liturgischen Orgelspiel an. Dabei diente als häusliches Clavier-Instrument das leichte und leise Clavichord und in selteneren Fällen das wesentlich teurere und durchdringende Cembalo. Modelle mit zwei Manualen und mit ergänzenden Pedalklaviaturen boten am Vorbild der Orgel orientierte Spielmöglichkeiten. Als Stipenidat an der Michaelisschule in Lüneburg nutzte Johann Sebastian von 1700 an die Chance, sich beim örtlichen Johannis-Organisten Georg Böhm und im nahen Hamburg beim Katharinen-Organisten Johann Adam Reincken am Tasteninstrument weiterzubilden. 1703 wurde er dann Organist in Arnstadt, 1707 in Mühlhausen und im darauf folgenden Jahr am Hof der Herzöge von Sachsen-Weimar. Das bedeutete einen künstlerischen Karrieresprung, mit dem sich auch Kammermusiker-Dienste an Cembalo und Violine verbanden und 1714 die Beförderung zum Konzertmeister. 1717 berief ihn dann der Fürst Leopold von Anhalt-Köthen zu seinem Hofkapellmeister. Das Orgelspiel gehörte damit nicht mehr zu seinen Dienstpflichten, und dabei blieb es auch, als er 1723 auf Lebenszeit zum Thomaskantor und Musikdirektor in Leipzig ernannt wurde. Dennoch hat Bach nie aufgehört, Musik für Tasteninstrument zu komponieren. Er blieb ein gefragter Lehrer für die folgende Organisten-Generation, und dieser Tatsache verdankt sich der weitaus größte Teil seines Œuvres für Clavier. Sicherlich dienten die überlieferten Abschriften der Bach-Werke aber schon damals nicht »nur« als exemplarische Lehrkompositionen, sondern auch zur Darbietung vor Publikum in einem Rahmen, der dem heutigen Abend vergleichbar ist.

Léon Berben konzentriert sich in seinem Konzert auf Werke des jüngeren Johann Sebastian Bach, in deren Struktur dessen allseits bewundertes Stehgreifspiel deutlich nachklingt. Die freieste Gattung ist dabei die Fantasie, die in virtuoser Form kontrastierende Elemente vereint: virtuoses Passagenwerk und Arpeggien, aber auch dicht gebundene Akkordfolgen, instrumentales Rezitativ im freien Metrum und prägnant rhythmisierte Episoden. Die Fantasie liebt die Extreme, die Abwechslung der Affekte. Aufgefangen wird solch musikalischer Ausnahmezustand des Bizarren aber gerne durch das Gegengewicht eines zweiten Satzes, in dem die harmonische Ordnung in Gestalt einer ebenso elaborierten wie schön klingenden Kontrapunktkunst wieder die Oberhand gewinnt. So in den beiden Werkpaaren, die den Rahmen des heutigen Abends bilden.

Die Kenntnis von Fantasia und Fuge a-Moll (BWV 904) haben wir einem mit Bach befreundeten Thüringer Kollegen zu verdanken, dem Organisten und Lehrer Johann Peter Kellner aus Gräfenroda. 1727 hat er die vermutlich wesentlich früher entstandenen Werkteile unabhängig voneinander notiert, deren Stilistik auf eine Entstehung in Bach Weimarer Jahren hindeutet. Auf die dichten, wie improvisiert dahingeworfenen Akkordfolgen der gravitätischen Fantasia folgt eine ebenso ernste Doppelfuge, deren beide Themen erst nacheinander durchgeführt und dann miteinander kombiniert werden.

Als Beispiel der freien Fantasie schlechthin kann die Fantasia cromatica (BWV 903) gelten, ein damals schon klassisches Sujet der Halbton-Dissonanzen, das Bach doch mit neuer Ausdrucksdichte füllt. Das Stück strahlt eine solche Trauer und Resignation aus, dass man es als das Lamento auf den plötzlichen Tod der ersten Frau Maria Barbara im Juli 1720 zu hören vermeint, nach dem der Köthener Hofkapellmeister erst in der anschließenden Fuge die Fassung wiedergewinnt.

Aus Weimarer Tagen stammt die früheste Quelle zur Fantasia a-Moll (BWV 922), die dort wohl zwischen 1710 und 1714 der Bach-Schüler Johann Tobias Krebs von seinem nur fünf Jahre älteren Meister kopierte. Der einerseits ungestümen, andererseits aber auch etwas stereotypen Motivbehandlung nach zu urteilen, könnte das Stück durchaus noch aus Ohrdrufer Jahren stammen.

Auch die Toccata e-Moll (BWV 914) zählt zu den in Abschriften aus dem Schülerkreis überlieferten Clavier-Werken. Als mehrteilige Form verbindet sie wiederum phantasievoll-freie Passagen (der Begriff Toccata leitet sich schließlich vom italienischen toccare ab und bezeichnet das virtuos-flüchtige Berühren der Tasten) mit dichter kontrapunktischen bis streng fugierten Abschnitten.

Auf ein musikalisches Vorbild Bachs weist die Fuge h-Moll (BWV 951a) hin. Hier hat er sein Thema in den erstmals 1694 publizierten Triosonaten op. 1 des Venezianers Tomaso Albinoni gefunden. In den zeitgenössischen Abschriften ist die h-Moll-Fuge mehrfach gemeinsam mit dem Präludium h-Moll (BWV 923) überliefert; offenbar wurden die beiden Kompositionen als zueinander gehörige Werke empfunden – und so sieht es auch Léon Berben.

Zu den ältesten Cembalowerken Bachs zählt das Capriccio sopra la lontananza del frato dilettissimo (BWV 992), das bereits um 1705 in ein Notenmanuskript des älteren Bruders Eingang fand. Als launiges Charakterstück, dem ein konkretes Programm zugrunde liegt, lässt es an Schilderungen über das legendäre gesellige Musizieren im Bach'schen Familienkreis denken und an jenen jüngeren Bruder (frato) Johann Jacob Bach, der 1704 als Oboist der schwedischen Armee beitrat und in die Ferne zog (lontananza). Vielleicht geht es aber auch um Bachs eigenen Abschied aus dem Hause Johann Christophs? Dank der beigegebenen Kommentare erschließt sich der musikalische Humor des Werks auf Anhieb; ein kleines Mirakel bleibt aber die Souveränität des Teenagers im Umgang mit seinem Instrument und dem musikalischen Material.

behe

Mitwirkende

Léon Berben – Cembalo

Im heutigen Konzert spielt Léon Berben ein Cembalo von Keith Hill (2011) nach einem Hamburger Instrument von Christian Zell aus dem Jahr 1728.